Wie ein Fluss zur Wüste wurde

Das Wasser des Luma-Flusses in Albanien fließt nicht mehr in seinem natürlichen Flussbett, sondern durch Rohre. Wasserkraftwerke verwandelten das Naturparadies in eine trockene Schlucht. In seinem Gastbeitrag schreibt GËZIM HILAJ über die traurige Transformation seines Heimatstromes.

Der Text wurde in der Ausgabe 2/2023 von Info Europa veröffentlicht. Die vollständige Ausgabe ist hier zu lesen.

Der Weg zum Dorf Borje im Norden Albaniens führt über eine holprige Straße. Obwohl hier investiert wurde, spüren die Einheimischen davon nichts. »Die meisten sind in andere Länder geflohen. In Borje wurde ein Wasserkraftwerk gebaut, doch die Einwohner*innen haben kein Trinkwasser. Wir haben auch Probleme mit der Stromversorgung«, erzählt Krenar Bilali. Er ist einer der wenigen, die geblieben sind und beklagt die erheblichen Summen, die in Wasserkraftwerke am Fluss Luma gesteckt werden, während für Infrastrukturprojekte nichts übrig bleibt.

Die Luma durchfließt die Naturparks Korab-Koritnik und Vana-Schlucht. Allein in Letzterem wurden zwischen 2012 und 2016 zehn Wasserkraftwerke gebaut und fünf weitere genehmigt. Diese Anlagen ermöglichen keine gleichmäßige Strömung. Stattdessen fließt Wasser von einem Damm zum nächsten. So trocknet das Flussbett komplett aus.

Der Fall des Luma-Flusses zeigt, dass Albanien Rückschritte beim Umweltschutz macht. Doch in Fragen Wasserkraft steht das Land regional nicht alleine da. Im Jahr 2022 waren an Flüssen des Balkans 1726 Wasserkraftwerke in Betrieb und 108 befanden sich im Bau. Künftig sind 3281 weitere geplant – 404 davon in Albanien. Damit steht Albanien an dritter Stelle hinter Serbien und Griechenland. So wie am Luma-Fluss leidet die gesamte Region unter der großen Anzahl von Kleinstaudämmen.

Großer Schaden, wenig Leistung

Albanien erzeugt Strom fast ausschließlich aus Wasserkraft. Und obwohl Wasserkraftwerke als grüne Alternative zu umweltschädlichen Kohlekraftwerken gelten, trifft das nur eingeschränkt auf Kleinkraftwerke zu. Olsi Nika, Direktor der NGO EcoAlbania, erklärt: »Ein gesamter Fluss wird zerstört für extrem wenig Energiegewinn.« Nach Angaben der Energieregulierungsbehörde deckten alle kleinen Wasserkraftwerke im Jahr 2022, darunter das in Borje, nur 24,3% des nationalen Energiebedarfs. Ein Teil dieser Kraftwerke verwandelte den Fluss Luma in eine trockene Wüste. Das große Problem bei der Luma ist ihre Fragmentierung. »Durch sie hat das Ökosystem die natürliche Ordnung verloren, da keine Längsverbindung mehr besteht«, sagt Nika. Die Luma sei kein Fluss mehr, sondern eine regulierte Wasserkraftkaskade. Die Konzessionsgesellschaften würden sich nicht an die Verträge halten, die eine Aufrechterhaltung des ökologischen Durchflusses vorschreiben. Die biologischen Korridore in den Dämmen, die Fischen und anderen Lebewesen ein sicheres Passieren erlauben sollten, würden nicht genug Wasser führen.

Die Nationale Agentur für Schutzgebiete und Umweltverträglichkeitsprüfungen hatte sich gegen den Bau des Wasserkraftwerks in Borje ausgesprochen. Sie teilt die Auffassung, dass dieses Gebiet »wertvolle Lebensräume und Arten« beheimate und ein Kraftwerk »negative Auswirkungen auf die Umwelt hätte«. In der Umweltverträglichkeitsprüfung heißt es, dass es in dem Naturpark verboten ist, den natürlichen Zustand von Wasserreserven, Quellen, Seen und Feuchtgebieten zu verändern. Nichtsdestotrotz wurde das Wasserkraftwerk gebaut.

Schwindender Protest

Die Bewohner*innen der Gebiete, durch die sich Nebenarme der Luma winden, wehrten sich jahrelang gegen den Bau von Wasserkraftwerken. Doch in den Dörfern Topojan und Borje scheinen manche nun kapituliert zu haben. »Die Zeit über Wasserkraftwerke zu sprechen ist vorbei. Wir haben 2018 in Tirana gegen ihren Bau protestiert. Jetzt können wir nichts mehr tun. Wir können nicht mit den Mächtigen verhandeln«, sagt ein Einwohner von Topojan, der anonym bleiben möchte, da er negative Konsequenzen wegen seiner Meinungsäußerung fürchtet.

Die Agentur für Territoriale Entwicklung genehmigte 2018 fünf neue Luma-Kraftwerke. Damals leisteten die Anrainer*innen Widerstand. Während des Wahlkampfes 2021 versprach der ehemalige Bürgermeister der nächstgelegenen Stadt Kukës, Safet Gjici, dass diese Kraftwerke nicht gebaut werden – bis jetzt hält er sein Wort. Es ist ein kleiner Erfolg, auch wenn es keine endgültige Entscheidung ist. Der Bewohner Topojans meint skeptisch: »Niemand wurde zu den bereits gebauten Wasserkraftwerken befragt. Selbst wenn der Staat beschließt, zwanzig weitere Kraftwerke zu bauen, werden wir erst davon erfahren, wenn die ersten Bagger anrollen.« Denn das letzte Wort wird auf nationaler Ebene gesprochen, lokale Regierungen hätten wenig bis gar kein Mitspracherecht.

Warnung von oben

Am 19. Juli 2022 startete die EU die Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien. Eines der 35 Verhandlungskapitel hat den Schwerpunkt Umwelt. Der aquis communautaire in diesem Bereich umfasst rund 300 Rechtsakte. Im Länderbericht aus 2022 schreibt die Europäische Kommission: »Die Auswirkungen strategischer Investitionen auf die biologische Vielfalt und den Naturschutz erfordern Aufmerksamkeit.« In den Bereichen Wasserwirtschaft, Chemikalien und Umweltkriminalität sieht sie nur begrenzte Fortschritte. Bereits 2016 hat das Europäische Parlament die albanische Regierung für die Planung von Wasserkraftprojekten kritisiert und sie aufgefordert, mehr Rücksicht auf Schutzgebiete und andere sensible Naturräume zu nehmen. Damals ging es vor allem um den Fluss Vjosa. Dieser letzte große Wildfluss Europas wurde im März 2023 zum Nationalpark erklärt.

Toter Fluss

Auch die Luma war einst ein Naturparadies. Sie beheimatete 26 Fischarten, darunter Forellen, Karpfen und Welse. Der Biologe Arben Palushi hat wiederholt Expeditionen zum Fluss unternommen. Sein Fazit: »Jetzt, wo das Wasser von Rohr zu Rohr fließt, gibt es diese Artenvielfalt nicht mehr. Der Fluss wurde steril.« Trotz der Bemühungen, Überlebensgruben zu bauen, sei es Palushi und anderen Expert*innen nicht gelungen, die endemischen Lebewesen des Flusses zu retten. Palushi zufolge fügen die Konzessionsunternehmen der Luma Chlor zu, um die Rohre von Algen zu reinigen. Diese würden nämlich die Energieerzeugung durch Reibung verringern. »Sie haben damit die Fische getötet. Und sie versuchen nicht einmal mehr, die toten Fische aus dem Flussbett zu entfernen«, ist Palushi empört.

Die Nationale Inspektion für Territoriale Verteidigung (Inspektorati Kombëtar i Mbrojtjes së Territorit, IKMT) ist zuständig für Überprüfungen in diesen Wasserkraftwerken. Erst nach mehreren Anfragen zum Zustand dieser Anlagen und den Auswirkungen auf das Ökosystem führte sie die notwendigen Inspektionen durch. Ihren Angaben nach betrieben die Konzessionsunternehmen zwei Kraftwerke, obwohl sie die Anforderungen der Umweltgenehmigung nicht erfüllten. Nach zwei Jahren und erneutem Auskunftsersuchen in 2023 erhielt ich noch immer keine Antwort darauf, ob die Behörde diese zwei Unternehmen bestrafte.

IKMT Kukës erklärte, dass einige Luma-Kraftwerke 100% des Flusswassers nutzen, wodurch das Flussbett in diesem Abschnitt austrocknet. Trotz dieser Erklärung gab IKMT nicht bekannt, was mit den Konzessionären geschieht, die das Ökosystem irreparabel schädigten. Und trotz der Behauptung, dass ein Teil der Investitionen in die vertraglichen Prognosen und Umweltverpflichtungen fließt, zeigt ein Besuch der Mündung des Flusses in die Weiße Drin ein völlig anderes Bild: ein karges Flussbett mit Steinen, über die seit Jahren kein Wasser mehr floss, nicht mal im Winter. Das Wasser, das früher in der Luma rauschte, einem der größten Flüsse der Region, wird heute durch Pipelines geleitet, um Strom zu erzeugen. Währenddessen leiden die Anrainer*innen noch immer unter Stromausfällen. Das Leben der Bewohner*innen entlang dieses Flusses hat sich durch die Wasserkraftwerke nicht verbessert und die Lebewesen dieses Ökosystems gehören der Vergangenheit an.

 

Gëzim Hilaj ist Journalist und arbeitet für den albanischen öffentlich-rechtlichen Fernsehsender RTSH. In Albanien gewann er einen Fact-Checking Award und für seine Recherche über Wasserkraftwerke wurde er von der Thomson Foundation als einer der besten Nachwuchsjournalist*innen ausgezeichnet.

Wenn Diskriminierung durstig macht

Ein Drittel der Rom*nja-Gemeinden in Europa hat keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und Sanitäranlagen. In seinem Gastbeitrag schreibt BERNARD RORKE über gezielte Entscheidungen, die zu lebensbedrohlichen Situationen für Europas größte ethnische Minderheit führen.

Der Text wurde in der Ausgabe 2/2023 von Info Europa veröffentlicht. Die vollständige Ausgabe ist hier zu lesen.

»Man muss kein*e Wasserexpert*in sein, um zu erkennen, dass es ein unmenschlicher Akt ist, während einer Hitzewelle die Brunnen einer Siedlung abzustellen.« So urteilte der verstorbene Rom*nja-Rechtsaktivist Jenő Setét, nachdem lokale Behörden im August 2017 die Wasserversorgung in den Rom*nja-Vierteln Gulács und Onga in Ungarn einstellten. Während eines ähnlichen Skandals im August 2013 ordnete die Regierung den Bürgermeister von Ózd an, die Wasserversorgung der Rom*nja-Bewohner*innen wiederherzustellen. Der Bürgermeister hatte die Pumpen, auf die Rom*nja angewiesen waren, stillgelegt, weil die Gemeinde ihre Wasserrechnungen senken musste. Diese zum Höhepunkt einer Hitzewelle ergriffene Maßnahme zwang Tausende Rom*nja bei über 40 Grad Celsius stundenlang für Wasser anzustehen. Vorfälle wie diese sind symptomatisch für die Verletzung des grundlegenden Menschenrechts auf sauberes Wasser und sanitäre Einrichtungen. Sie beweisen, dass Institutionen und Politiker*innen ein System des Umweltrassismus erhalten, das für viele Menschen lebensbedrohlich ist. Solche Situationen zeugen außerdem auch vom Versagen des Strategischen Rahmens der EU für die Roma, der das Leben der größten ethnischen Minderheit in Europa verbessern sollte.

Wasserversorgung: Unsicher, unsauber und untauglich

Das European Roma Rights Centre (ERRC) fand 2017, dass eine erhebliche Anzahl von Rom*nja unter dem behördlichen Versagen leidet, sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen für sie sicherzustellen. Am stärksten betrifft das jene, die gezwungen sind, am Stadtrand oder in völlig abgeschotteten Siedlungen ohne angemessene Infrastruktur zu leben. Ihre Wasserquellen sind oft weit von ihrem Wohnort entfernt, wobei die Last der Wasserbeschaffung hauptsächlich auf Frauen und Mädchen entfällt. Zudem werden diese Wasserquellen häufig nicht auf ihre Sicherheit hin überprüft und sind Verunreinigungen ausgesetzt, darunter Trockentoiletten, Insekten und wilden Tieren. Selbst in Vierteln, in denen eine angemessene Wasserinfrastruktur besteht, können sich viele Rom*nja die Anschluss- und Nutzungsgebühren nicht leisten. Die ERRC-Studie bestätigte, dass der fehlende Zugang zu sauberem Wasser nicht auf Dürren und andere Naturereignisse zurückzuführen ist. Es sei ein bewusster Entscheidungsprozess, den Rom*nja das Menschenrecht auf Wasser zu verweigern – ein Recht, das die UNGeneralversammlung als »unverzichtbar für ein Leben in Menschenwürde und als Voraussetzung für die Verwirklichung anderer Menschenrechte« beschreibt.

Diskriminierung entlang des Kontinents

Der Roma Civil Monitor (RCM) stellte fest, dass in Bulgarien, Tschechien, Frankreich, Ungarn, Italien, Rumänien und der Slowakei selbst dort, wo grundsätzlich eine Wasserversorgung und Abwasserentsorgung besteht, Rom*nja systematisch diskriminiert werden. Der EU-Agentur für Grundrechte zufolge ist die Kluft zwischen Rom*nja und der Allgemeinbevölkerung in Rumänien am größten. Rund 70% der Rom*nja hatten im Jahr 2016 kein Leitungswasser in ihren Wohnungen: »Rom*nja haben in Rumänien – dem Land mit der höchsten Anzahl von Rom*nja in der EU – in ähnlichem Maße Zugang zu sauberem Wasser wie Menschen in Bhutan, Ghana oder Nepal.« Bhutan und Nepal stehen auf der UN-Liste der am wenigsten entwickelten Länder der Welt. In fast allen EU-Staaten gibt es Beispiele für Umweltrassismus gegen Rom*nja. Léo Heller, früherer UN-Sonderberichterstatter für das Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser und Sanitärversorgung, fand die Lebensbedingungen der Rom*nja in Portugal »beunruhigend und vergleichbar mit den schlimmsten Situationen, die ich in viel weniger entwickelten Ländern gesehen habe«. In Italien haben Untersuchungen in »Nomad*innencamps« in 2005 gezeigt, dass die dort lebenden Kinder häufiger unter Asthma, Durchfall und Bronchitis leiden. Der RCM deckte auf, dass Gemeindebedienstete in Frankreich erklärten, dass sie Massenräumungen rascher durchführen können, wenn sie den Bewohner*innen von Barackensiedlungen Sanitäreinrichtungen vorenthielten. Auch an Irland übte die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) 2019 scharfe Kritik. Lokale Behörden gaben die 4,1 Millionen Euro an zweckgebundenen Mitteln für Unterkünfte für irische »Traveller« aufgrund von Vorurteilen, dem Widerstand der Anrainer*innen und mangelndem politischen Willen nicht aus. Über eine TravellerUnterkunft in Dublin schreibt ECRI: »Die Anlage hatte nur einen Wasseranschluss und eine Toilette für 14 Familien, darunter mehr als 40 Kleinkinder, und keine Müllabfuhr.«

Konservative verwässern Trinkwasserrichtlinie

Das Europäische Parlament stimmte 2018 über die Trinkwasserrichtlinie ab, rund vier Jahre nachdem 1,8 Millionen EU-Bürger*innen in der ersten erfolgreichen Europäischen Bürgerinitiative (EBI) Right2Water gefordert hatten, den Zugang zu sauberem Wasser als grundlegendes Menschenrecht anzuerkennen. Die Europäische Kommission nannte die Abstimmung als Beweis dafür, dass die EU auf die Forderungen der Bürger*innen hört und Kommissar Karmenu Vella erklärte, dass »dank der EU-Gesetze die meisten Menschen in der EU bereits einen sehr guten Zugang zu hochwertigem Trinkwasser haben«. Doch die Äußerung »die meisten Menschen« schließt hunderttausende Rom*nja aus. Der Europäische Gewerkschaftsverband für den öffentlichen Dienst (EGÖD) kritisierte, »dass eine Mehrheit der rechten Fraktion im Europäischen Parlament Zeit und Mühe darauf verwendete, die Forderungen der Zivilgesellschaft zu verwässern«. Es sei eine Schande, dass sich die Mehrheit der Abgeordneten gegen die Aufnahme des Menschenrechts auf Wasser in die EU-Gesetzgebung aussprach. Abgeordnete der Linken und der Grünen bedauerten ebenfalls, dass das Parlament ihre Forderungen nach konkreten Verpflichtungen für die Mitgliedstaaten zur Umsetzung der Richtlinie nicht unterstützte.

Gesundheitliche Risiken, auch abseits der Pandemie

Der Ausbruch der COVID-19-Pandemie im Jahr 2020 führte den am stärksten ausgegrenzten Rom*nja-Gemeinschaften ihre prekäre Lage schnell vor Augen. Besonders gravierend war die Situation in der berüchtigten Pata-Rât-Siedlung in Rumänien, wo Wohnungsrechtsaktivist*innen von den Behörden Sofortmaßnahmen zum Schutz der Gesundheit der 1500 Rom*nja-Bewohner*innen forderten. In einem offenen Brief schilderten sie, dass das Immunsystem der Rom*nja durch das jahrelange Leben in einer überfüllten und giftigen Umgebung geschwächt sei, und fragten: »Wie sollen sie sich häufig die Hände waschen, wenn sie kein Wasser haben? Wie können sie sich schützen, wenn sie 16m² mit fünf bis sechs Menschen teilen? Wie können sie sich in der Nähe von Giftmülldeponien um ihre Gesundheit kümmern?« Die Pandemie mag vorbei sein, aber die Benachteiligung bleibt. Die Bemühungen der Europäischen Union zur Förderung der Rom*njaIntegration haben dem Umweltrassismus nichts anhaben können. Nach eigener Einschätzung der Europäischen Kommission war der erste EURahmen zur Integration der Roma ein »unentschuldbarer« Misserfolg und eine große Zahl von Rom*nja fand sich am Endpunkt dieses Rahmens im Jahr 2020 genauso ausgegrenzt und verarmt wieder wie schon davor. Es ist bereits jetzt absehbar, dass der neue Zehnjahresplan der Kommission bis 2030 vermutlich keinen spürbaren Wandel herbeiführen wird, denn die Diskussion über Umweltgerechtigkeit hat weder in Brüssel noch in den EU-Mitgliedstaaten begonnen.

 

»Unnatural Disaster: Environmental Racism and Europe’s Roma«, Bernard Rorke, CRD, 2023.

»Brutal and Bigoted: Policing Roma in the EU«, Bernard Rorke, ERRC, 2022.

»Thirsting for Justice: Europe’s Roma Denied Access to Clean Water and Sanitation«, ERRC, 2017.

 

Bernard Rorke wurde in Dublin geboren und lebt in Budapest. Der promovierte Politiktheoretiker ist Advocacy und Politik manager des European Roma Rights Centre (ERRC) und arbeitet seit 1998 zu Rom*nja-Themen. Er schreibt regelmäßig über die Ausgrenzung von Rom*nja, Rassismus und Rechtsextremismus.

Das stille Opfer des Ukraine-Krieges

Bewaffnete Konflikte wirken sich nicht nur auf Menschen, sondern auch auf gesamte Ökosysteme aus. Am Beispiel ihrer ukrainischen Heimatstadt Mykolajiw erklärt die Süßwasserökologin OLEKSANDRA SHUMILOVA die weitreichenden Folgen des Ukraine-Krieges für Mensch, Tier und Umwelt.

Der Text wurde in der Ausgabe 2/2023 von Info Europa veröffentlicht. Die vollständige Ausgabe ist hier zu lesen. 

Seit Februar 2022 richtet sich die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf den Krieg in der Ukraine. Er beeinträchtigt das Leben von Millionen von Menschen und hat vielfältige Konsequenzen, die weit über die ukrainischen Grenzen hinausreichen. Die Natur ist das stille Opfer dieses verheerenden Krieges. Militäraktionen führen zu massiven Bränden, zur Verschmutzung von Böden und Luft und haben drastische Folgen für die Tierwelt. Die Auswirkungen des Krieges auf das Wasser – und des Wassers auf den Krieg – waren jedoch eine der ersten, die viele Ukrainer*innen zu spüren bekamen.

Verzweigte Schäden

Obwohl schon lange zu Folgen von Militäraktionen auf Wassersysteme geforscht wird, ist der Fall der Ukraine besonders. Im Gegensatz zu den Konflikten im hauptsächlich landwirtschaftlich geprägten Globalen Süden ist die Wasserinfrastruktur der Ukraine hoch industrialisiert. Sie umfasst große Stauseen, Wasserkraftwerke, Kühlbecken für Kernkraftwerke, Wasserreservoirs für Industrie und Bergbau sowie ein ausgedehntes Netz an Wasserverteilungskanälen für landwirtschaftliche und kommunale Zwecke. Wie verheerend die Schäden durch Kriegsinterventionen sind, zeigte der Bruch des Kachowkaer Staudamms. Anfang Juni 2023 wurde dieser gesprengt – erste Hinweise deuten auf russisches Kalkül (Stand: Juni 2023). Ganze Landstriche wurden geflutet, Äcker, Industrieanlagen und Siedlungen zerstört. Zudem herrscht Sorge um das größte europäische Kernkraftwerk Saporischschja, das mit Kühlungswasser aus dem Stausee versorgt wurde. Das ganze Ausmaß und die langfristigen Folgen der Schäden werden enorm sein und sind immer noch schwer absehbar.

Als Süßwasserökologin, die in der Ukraine aufwuchs, brachte mich die Bedrohung der Wasserinfrastruktur, der Wasserressourcen und der Ökosysteme durch den Krieg schon seit Beginn der russischen Invasion zum Nachdenken. Ich wollte meinem Land mit meiner Expertise helfen. Der Ausbruch des Krieges fiel mit einer Übergangsphase in meinem Leben zusammen und es kostete viel Mühe, meine eigene Forschungsgruppe aufzubauen. Dennoch schaffte es mein Team, die Auswirkungen auf die Wasserressourcen und -infrastruktur während der ersten drei Monate des Krieges zu analysieren. Die Ergebnisse zeigen, wie vielfältig die Folgen militärischer Aktionen waren. Der Betrieb von Wasseraufbereitungsanlagen wurde mehrfach unterbrochen, Wasserleitungen und Kanäle beschädigt, Dämme brachen schon damals und verursachten Überflutungen. Hinzu kam die Gefahr von nautischen Minen. Im Süden der Ukraine bedrohten Militäraktionen das Netz der Bewässerungskanäle, während Angriffe im Osten das Abpumpen von Wasser aus unterirdischen Minen verhinderten, was zu einem unkontrollierten Anstieg von verschmutztem Minenwasser führte. Das wirkte sich wiederum auf Grund- und Oberflächenwasser aus. Obwohl die Regionen, in denen intensive Bodenkämpfe stattfanden, am stärksten betroffen waren, wurden Auswirkungen auf das Wasser auch weit entfernt von den aktiven Kampfgebieten festgestellt. Besonders dramatisch ist der Anstieg der Zahl der Menschen in der Ukraine, die Wasser-, Sanitär- und Hygienehilfe benötigen: Zwischen April und November 2022 stieg sie von sechs auf 16 Millionen.

Das salzige Wasser von Mykolajiw

Vom Bruch des Kachowkaer Staudamms ist auch die Region rund um meine Heimatstadt Mykolajiw betroffen. Mit Wasserproblemen hat die Stadt aber schon seit Beginn der russischen Invasion zu kämpfen. Bereits im April 2022 wurde eine 90km lange Pipeline, die Wasser aus dem Fluss Dnipro lieferte, durch Kampfhandlungen zerstört. Eine halbe Million Einwohner*innen hatte plötzlich kein Leitungswasser mehr. Überall sah man Menschen mit Trinkwasserkanistern, die sie von Lieferfahrzeugen bekamen. Obwohl Mykolajiw von zwei Flüssen umgeben ist, eignet sich ihr Wasser aufgrund der hohen Salzkonzentration nicht zum Trinken. Nach einem Monat wurde beschlossen, das Flusswasser trotz geringer Qualität in die Wasserleitungen zu lenken, damit die Menschen es wenigstens für Haushaltszwecke wie Putzen oder Wäschewaschen nutzen können. Es war eine schwierige Entscheidung, da salziges Wasser Rohrleitungen korrodieren lässt. Nach über einem Jahr ist das Leitungswasser noch immer rostig und die Zahl der beschädigten Rohrleitungen in Mykolajiw steigt an. Die Frontlinie verschob sich mittlerweile in den Osten der Stadt und die Orte, an denen die Wasserversorgungsleitung zerstört wurde, sind dadurch zugänglicher. Aufgrund der Gefahr wiederholter Angriffe und der insgesamt vielen Schäden stehen die Reparaturen dennoch weiter aus.

Die unzureichende Wasserversorgung ist einer der Hauptgründe, warum sich viele Flüchtlinge aus Mykolajiw nach wie vor weigern zurückzukehren. Die in der Stadt verbliebenen, zumeist alten Menschen verbringen ihren Alltag mit der ständigen Suche nach Wasser. Regierungsangestellte und Freiwillige halfen bei der Errichtung mehrerer Brunnen, die ihnen Zugang zu Trinkwasser verschaffen. Bis Mitte Februar 2023 wurden 189 Brunnen errichtet und es ist geplant, diese Zahl auf bis zu 250 zu erhöhen – trotz der hohen Kosten von rund 25.000 Euro pro Brunnen. Auch wenn diese Maßnahmen der Bevölkerung helfen, stellen sie eine neue Umweltbedrohung dar, da der Grundwasserspiegel durch die umfangreiche Entwässerung des Bodens sinkt.

Im April 2023 genehmigte die Europäische Investitionsbank die Bereitstellung zusätzlicher finanzieller Mittel in Höhe von 20 Millionen Euro für den Ausbau der Wasserversorgung und des Abwassersystems in Mykolajiw. Das örtliche Wasserversorgungsunternehmen erwägt den Bau einer neuen Pipeline, die Wasser aus dem Südlichen Bug flussaufwärts transportiert, oder die Einrichtung groß angelegter Umkehr-Osmosesysteme, die dazu beitragen, das aus der Dnipro-Bug-Mündung entnommene Salzwasser zu reinigen.

Wasser hat höchste Priorität

Der Zugang zu Wasser ist ein grundlegendes menschliches Bedürfnis, das durch zahlreiche internationale Übereinkommen geschützt ist. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verabschiedete am 27. April 2021 eine Resolution, gemäß der alle an einem bewaffneten Konflikt beteiligten Parteien verpflichtet sind, die Zivilbevölkerung und die zivile Infrastruktur, einschließlich Wassereinrichtungen, zu schützen. Aber funktioniert das auch, wenn tatsächlich ein Krieg ausbricht? Viele Wassertechniker*innen wurden während Reparaturen beschädigter Infrastruktur getötet oder verletzt. Die oft schlechte Qualität des gelieferten Wassers hat negative Auswirkungen auf die Gesundheit und erhöht die Gefahr von Epidemien. Das zwingt Menschen dazu an andere, bessere Orte zu ziehen.

Flüsse kennen keine Grenzen. Die meisten Flüsse auf dem Gebiet der Ukraine münden in das Schwarze und das Asowsche Meer, was zu einer potenziellen Verbreitung von Schadstoffen und negativen Folgen für lebende Organismen führt. Es wird Jahre dauern, bis wir das ganze Ausmaß dieser Auswirkungen verstehen, aber einige von ihnen – wie die Gefahr für die globale Ernährungssicherheit – sind bereits jetzt spürbar. Daher sollten die Wiederherstellung der Wasserinfrastruktur und die Sanierung der Wasserressourcen ein integraler Bestandteil des friedensschaffenden Prozesses werden.

»Impact of the Russia–Ukraine armed conflict on water resources and water infrastructure«, Oleksandra Shumilova et al., in Nature Sustainability 6, 2023.

 

Oleksandra Shumilova arbeitet am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei in Berlin. Sie forscht zu Wechselwirkungen zwischen Mensch und Natur sowie nachhaltiger Entwicklung. Ihre Forschung umfasst auch die Ökologie intermittierender Flüsse sowie die Hydro- und Morphodynamik von Flussauen.

Ein Wohnzimmer am Fluss

Mit »taktischem Urbanismus« wollen Aktivist*innen des Vereins Valyo das Budapester Donauufer inklusiver gestalten. ANITA GOCZA sprach mit CILI LOHÁSZ über Konzerte auf Brücken, Zusammenarbeit mit der Stadtpolitik und den ersten Sprung in die Donau seit 1973.

Der Text wurde in der Ausgabe 2/2023 von Info Europa veröffentlicht. Die vollständige Ausgabe ist hier zu lesen. 

Ein Spaziergang entlang der Donau an der Pest-Seite gestaltet sich äußerst schwierig: Autos, Lärm, Asphalt und CO2 beherrschen die Orte mit der besten Aussicht auf Budapest. Der obere und untere Damm werden als Straßen genutzt. Diese sind nur schwer zu überqueren, auf einer kilometerlangen Strecke gibt es nur vier Zebrastreifen. Wer ans Ufer gelangen will, muss über Metallstangen klettern und selbst dann finden Fußgänger*innen keinen Gehweg, sondern nur einen schmalen Trampelpfad. Cili Lohász wollte das nicht mehr hinnehmen. Sie ist Mitgründerin der NGO Valyo – ein Akronym aus den ungarischen Wörtern város (Stadt) und folyó (Fluss) – und setzt sich für die Demokratisierung von öffentlichen Räumen entlang der städtischen Donau ein.

»Wir wollen den Fluss in das Wohnzimmer der Budapester Bevölkerung verwandeln«, sagt die Geografin. Die Idee zu städtischen Interventionen kam ihr nach einer Radtour entlang der Donau. »In Wien konnten sich die Teilnehmer*innen in der Donau abkühlen, in Budapest war das nicht möglich.« Sie merkte, dass sie zwar regelmäßig an der Donau Rad fährt, jedoch keine Verbindung zum Fluss selbst hatte: »Ich saß fast nie am Ufer.« Das wollte sie ändern.

Brücken besetzen, um Brücken zu bauen

Neben Lohász gründeten ein Urbanist, ein IT-Spezialist und ein Soziologe Valyo im Jahr 2010. Sie alle hatten genug vom Kampf für ferne, globale Klimaziele und wollten etwas tun, das das Stadtleben tatsächlich verändert. 2011 kauften sie deswegen ein Zugticket nach Belgrad. »Es ist viel effektiver ein Foto mit Stränden am Fluss in Belgrad zu zeigen als in Wien«, erklärt Lohász. »Dann kann niemand einfach sagen: Die haben mehr Geld für die Umsetzung.« Die Valyo-Gründer*innen merkten, dass die Menschen in Belgrad eine intensive Verbindung zu ihren Flüssen, der Sava und Donau, hatten. Sie fanden Hausboote, Strände und Nachtclubs an den Ufern. Das brachte ihnen Inspiration für Budapest: »Wir mussten mit kleinen Aktionen starten. Hätten wir von Anfang an gesagt, dass Autos aus dem unteren Uferbereich verbannt werden sollen, wären wir für verrückt erklärt worden.«

Die erste Initiative war das sogenannte »Valyo-Ufer« an der Kettenbrücke in den Sommern 2012, 2013 und 2014 – ein Naherholungsgebiet mit bunten Bänken, Liegestühlen und Freizeitprogramm. »Es war relativ einfach zu organisieren«, sagt Lohász. »Wir holten die Genehmigung der Stadtverwaltung für die Nutzung des öffentlichen Raums ein. Unser Ziel war es, dass die Menschen diese Art der Ufernutzung später vermissen.« Die nächste Großaktion fand auf der Freiheitsbrücke statt. 2016 wurde wegen Bauarbeiten der Verkehr auf ihr für einen Monat gesperrt. »Schon nach ein paar Tagen belagerten Menschen die Brücke. Fußgänger*innen, Radfahrer*innen, manche machten sogar Yoga. Daran knüpften wir den darauffolgenden Sommer an.« Mit einer erfolgreichen Unterschriftenaktion ermöglichte Valyo eine autofreie Freiheitsbrücke an vier Wochenenden in 2017. »Alle Stadtbewohner*innen konnten mitgestalten«, erzählt Lohász. Die Events umfassten Tai-Chi-Kurse, Klassik- und Rockkonzerte, Malkurse, Theateraufführungen und Zirkusshows. »Die Menschen schufen einen demokratischen öffentlichen Raum, in dem alle sozialen Schichten und Altersgruppen vertreten waren.« Finanziert wurde dies über Crowdfunding. Laut Lohász zeigten die Aktionen, dass öffentliche Räume verschiedene Funktionen haben: »Man muss nicht immer zwischen Autobahn oder Spielplatz entscheiden. Derselbe Ort kann unter der Woche als Straße und an Wochenenden als Picknickplatz genutzt werden.« Gleichzeitig wollte Valyo die Kommerzialisierung der Plätze vermeiden: »Es sollte kein Konsumzwang herrschen, ein teures Foodtruckfestival kam für uns nicht in Frage.«

Politikum öffentlicher Raum

Ein großer Meilenstein in der Geschichte Valyos ist die Errichtung eines kostenlosen öffentlichen Strandes in Budapest in Zusammenarbeit mit der NGO Fák a Rómain (Bäume am Römischen Ufer). »Der Kieselstrand am Római-Ufer ist für mich auch eine symbolische Errungenschaft. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts galt die Donau als schmutziges und stinkendes Wasser, in das man nicht einmal seinen kleinen Zeh stecken sollte«, schildert Lohász. Tatsächlich war das Schwimmen in der Donau in Budapest seit 1973 verboten. Nachdem ein modernes Wasserreinigungssystem installiert wurde, und Testtage in 2019 und 2020 stattfanden, eröffnete die Stadt 2022 einen öffentlichen Strand mit Badeaufsicht. Das erste Mal seit fast 50 Jahren konnten die Budapester*innen wieder sicher in ihrem Stadtfluss schwimmen.

Der Strand ist beispielhaft für Valyos Zusammenarbeit mit dem Stadtrat. »Unsere Aufgabe ist es, das Potential bestimmter Veränderungen aufzuzeigen. Wenn sich unsere Versuche als erfolgreich erweisen, werden sie Teil der Stadtpolitik und wir können uns zurückziehen«, meint Lohász. Im Falle des Strandes bestünde ihre Rolle nur mehr darin, bedarfsweise mit ihrem Expert*innenwissen zu unterstützen. Und dieses ist breit gefächert. Unter den mittlerweile 30 Mitgliedern von Valyo finden sich verschiedenste Berufsfelder.

Lohász erkannte, dass es vor allem ab 2018 eine politische Wende mit Donau-Schwerpunkt gab. Der Fluss tauchte immer öfter in politischen Debatten auf und Bürgermeisterkandidat*innen begannen über die Donau und ihre enge Verbindung zur Stadt zu sprechen. Sie bemerkte auch den großen Erfolg des Projektes an der Freiheitsbrücke: Konkurrierende Parteien verwendeten Fotos der Brücke voller Menschen in ihren Kampagnen. Lohász wertet dies als Erfolg, denn Autofahrer*innen galten in Budapest stets als wichtige Zielgruppe für Politiker*innen. Mit dem Wechsel in der Stadtregierung von der nationalkonservativen Regierungspartei Fidesz zu einem Oppositionsbündnis wurde die Zusammenarbeit Lohász zufolge noch einfacher. Im Oktober 2022 unterzeichnete Valyo im Budapester Rathaus gemeinsam mit 17 weiteren Organisationen und Behörden eine Erklärung über die Zukunft des Ufers auf der Pest-Seite der Stadt. Unter den Unterzeichnern waren Organisationen, die sich aktiv für die alternative Gestaltung des unteren Damms aussprachen, und jene, die zuvor dagegen waren. Sie alle kamen zur Einigung, dass der Damm zugänglicher für Fußgänger*innen und Radfahrer*innen werden soll.

Probieren und Studieren

Stadtplanung ist ein sensibles Unterfangen, es müssen die Interessen verschiedenster Stakeholder*innen beachtet werden. »Bei der Gestaltung des Valyo-Ufers merkten wir, dass sogar Radfahrer*innen den Raum unterschiedlich nutzen, abhängig davon, ob sie Rennrad, Stadtrad, oder gemeinsam mit Kindern fahren«, resümiert Lohász. Valyos Ansatz nennt sich daher »taktischer Urbanismus«. Neue Ideen werden zuerst getestet, bevor man sie in großem Maßstab umsetzt. »So können wir sozialen Konsens erreichen.« Auch wenn ihr persönliches Ziel ein autofreies Ufer sei, weiß Lohász, dass sich dieses in weiter Ferne befindet. Phasenweise Autosperren würden aller dings Ideen liefern, wie diese Räume neu genutzt werden können. »Die Pandemie hat uns gezeigt, wie wichtig öffentliche Räume in einer überfüllten Stadt sind – Menschen sehnten sich danach, ihre Beine im Grünen zu vertreten. Dies hatte eine stärkere Wirkung als eine jahrelange Sensibilisierungskampagne.« Deswegen ist sich Lohász auch sicher: »Wenn wir wirklich wollen, finden wir für alle einen vernünftigen Kompromiss.«

 

Cili Lohász ist ausgebildete Biologie- und Chemielehrerin sowie Geografin. Sie arbeitete als Bildungsexpertin für Klimaanpassung und nachhaltige Energienutzung, bevor sie Valyo mitgründete.

Anita Gócza arbeitete 15 Jahre lang als Radio-Reporterin und Redakteurin für die nationale Radiostation in Ungarn. Seit 2011 ist sie als freie Journalistin mit Fokus auf kulturelle Themen sowie als Dozentin für Online- und Radiojournalismus an der Budapest Metropolitan University tätig.

 

Verschwommene Grenzen im Nordkosovo

Durch den Gazivodasee verläuft die Grenze zwischen Kosovo und Serbien. Beide Länder befinden sich in einem jahrzehntelangen Konflikt, der auch in die Verwaltung des Sees einfließt. SOPHIA BEITER sprach mit LJUBIŠA MIJAČIĆ über unterschiedliche Zukunftsszenarien.

Der Text wurde in der Ausgabe 2/2023 von Info Europa veröffentlicht. Die vollständige Ausgabe ist hier zu lesen.

Im glasklaren Wasser des Gazivodasees (albanisch: Ujëmani See) spiegeln sich sanfte Hügel, die zu sandigen Badebuchten abfallen. Hier und da tuckert ein Fischerboot vorbei. Der Stausee ist ein beliebtes Erholungsgebiet. Im Sommer entfliehen hier viele Einwohner*innen der nahegelegenen Stadt Mitrovica dem urbanen Lärm. Doch hinter der idyllischen Fassade schwelt ein jahrzehntelanger Konflikt: Der bis zu 100m tiefe und 22km lange Stausee liegt zu 80% in der kosovarischen Gemeinde Zubin Potok. Im Norden erstreckt sich das Gewässer über die Grenze in die serbischen Gemeinden Tutin und Novi Pazar. Für Serbien, das den seit 2008 unabhängigen Staat Kosovo nicht anerkennt und als autonomes Gebiet innerhalb der eigenen Grenzen betrachtet, ist der See zur Gänze auf serbischem Territorium. Doch Kosovo, dessen Bevölkerung und Industrie stark von der Wasserzufuhr aus dem See abhängig sind, erhebt ebenso Ansprüche auf das Grenzgewässer. So wird der Gazivodasee – einst symbolisch für jugoslawische »Brüderlichkeit und Einheit« – ein Monument der umgekehrten Art.

Der Norden Kosovos wird großteils von der serbischen Minderheit bewohnt, was das Gebiet zum Hauptschauplatz von Auseinandersetzungen zwischen Belgrad und Priština macht. Bis heute gelingt es dem Kosovo nicht, die nordkosovarischen Gemeinden zu integrieren. Gleichzeitig sehen serbische Politiker*innen die Serb*innen in der Region von der ethnisch albanischen Mehrheit im Kosovo bedroht. Ljubiša Mijačić, selbst Serbe aus dem Nordkosovo, berichtet von einer zunehmend angespannten Lage. Der Umweltspezialist, der sich seit Jahren mit dem See beschäftigt, sagt: »Seit dem Herbst 2022 wird die Region zunehmend militarisiert.« Bereits davor kam es im Streit über Ausweisdokumente und Nummernschilder zu Straßensperren nahe des Gazivodasees.

Unklare Zuständigkeiten

Auch der See selbst wird oft zum Streitthema. Der Damm am Fluss Ibar wurde 1977 errichtet. »Die Idee dahinter war, die wirtschaftliche Entwicklung der industriell schwachen Provinz Kosovo voranzutreiben. 1984 wurde ein Kanal gebaut, der das Wasser ins Zentrum des Kosovos lenkt«, erzählt Mijačić. 11km2 Land wurden im Zuge der Errichtung geflutet, über 2000 Menschen mussten umgesiedelt werden.

Die Verwaltung des Sees übernahm die von der autonomen Provinz Kosovo geführte Firma Ibar Lepenac. Doch mit dem Zerfall der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawiens und der darauffolgenden Unabhängigkeitserklärung Kosovos geriet diese in Kosovos staatliche Hand – ein Staat, den Serbien bis heute nicht anerkennt. Daraufhin gründete Serbien die JP Ibar zur Verwaltung des Sees. »Die Firmen erkennen sich gegenseitig nicht an und beanspruchen jeweils die Verwaltung des Sees für sich«, erläutert Mijačić. In der Realität betreut Ibar Lepenac jedoch nur den Kanal und verdient somit an der Belieferung kosovarischer Unternehmen mit Wasser. Darüber hinaus versorgt sie rund 200.000 Kosovar*innen mit Trinkwasser. JP Ibar kümmert sich um die Instandhaltung von See und Damm. Dadurch schafft die Firma Arbeitsplätze im Nordkosovo, generiert allerdings kaum Einnahmen und muss sich auf die finanzielle Unterstützung Serbiens verlassen. »Von wem soll JP Ibar Geld verlangen? Die kosovarischen Firmen, die das Wasser erhalten, erkennen weder den serbischen Dinar als Zahlungsmittel noch die Firma selbst an«, sagt Mijačić.

Kosovo besitzt wenige alternative Wasserressourcen. »Es gibt kaum Niederschlag und keine anderen großen Flüsse, die zur industriellen Wasserversorgung genutzt werden.« Das mache das Land abhängig vom Gazivodasee. »Wenn die Wasserversorgung aus dem See gestoppt oder reduziert würde, käme die Industrie im Kosovo zum Erliegen«, stellt Mijačić fest. Auch wenn so ein Szenario unwahrscheinlich sei, sollte die regionale Verflochtenheit über den Fluss Ibar nicht unterschätzt werden. Dieser entspringt in Montenegro und fließt nach Serbien, wo er bei Ribariće den Stausee befüllt. Von dort fließt der Ibar im Kosovo weiter Richtung Mitrovica und anschließend zurück nach Serbien. Zieht Kosovo mehr Wasser aus dem See zur eigenen Versorgung, hat das Auswirkungen auf den Rückfluss nach Serbien. Beschließt Serbien aufgrund von Investitionen im Industriesektor am oberen Teil des Flusses mehr Wasser abzuzweigen, würde Kosovo darunter leiden.

Umweltschutz als Ansatzpunkt

Wassermangel wird in Zukunft aber auch ohne diese Interventionen zum Problem. Die Folgen des Klimawandels machen sich bereits bemerkbar. »Es braucht Schnee im Winter, um die Wasserkapazität im Frühjahr zu erhöhen. Andernfalls gibt es im Sommer Niedrigwasser«, erklärt Mijačić. Der letzte Winter zeigte wiederum, dass auch zu viel Wasser problematisch ist. Aufgrund der milden Temperaturen regnete es im Jänner sehr stark. »Seit Bestehen des Staudamms gab es nie so viel Druck auf den Damm. Die Schleusen mussten geöffnet werden, das Tal wurde geflutet. Zahlreiche Häuser waren von der Überschwemmung betroffen.« Hinzu komme Wasserverschmutzung, insbesondere des Ibar im Kosovo. Das Wasser aus dem Gazivodasee ist sauber. Bei Mitrovica mündet jedoch der Nebenfluss Sitnica in den Ibar und mit ihm Abwässer von Haushalten, Industrie und Landwirtschaft. In diesem Zustand fließt der Fluss schließlich zurück nach Serbien. »Umweltbelastungen bergen Gefahren für Wirtschaft und Gesundheit. Das verursacht Konflikte«, meint Mijačić. Eine verbesserte Zusammenarbeit von Serbien und Kosovo sei deshalb unabdinglich.

Doch wo setzt Kooperation in einer so nationalistisch aufgeladenen Situation an? Mijačić sieht Potential beim Umweltschutz: »Um den Dialog zu starten, sollte mit etwas begonnen werden, bei dem keine Seite die Vorherrschaft an sich reißt.« Er hat auch eine Idee, die den Verband serbischer Gemeinden im Nordkosovo involviert. Der EUVorschlag zu diesem Gemeindeverband, der seit 2013 diskutiert wird, aber bisher nicht umgesetzt wurde, umfasst eine stärkere Selbstverwaltung der mehrheitlich serbischen Gemeinden im Kosovo. Die Gemeinde Zubin Potok, in dem der Gazivodasee liegt, würde ebenfalls Teil dieses Gemeindeverbandes werden. Da der Ibar in die Morava mündet und diese schließlich in die Donau fließt, sei die Sauberkeit des Flusses auch mit der Wasserqualität der unteren Donau verbunden. »Kosovo ist im Gegensatz zu Serbien allerdings nicht Teil der Internationalen Kommission zum Schutz der Donau (IKSD), da einige Mitgliedstaaten der Initiative die Unabhängigkeit Kosovos nicht anerkennen. Die Gründung eines serbischen Gemeindeverbandes wird allerdings von allen unterstützt«, betont Mijačić. Daher könne eine vom serbischen Gemeindeverband verwaltete Umweltabteilung – beauftragt von der kosovarischen Regierung – womöglich Teil der IKSD werden. »Damit hätte Kosovo Zugang zu Informationen, um Umweltschäden vorzubeugen.« Zudem wären die Kosovo-Serb*innen in die Verwaltung des Sees eingebunden, was ihre Integration innerhalb Kosovos begünstige. Das verringere das Risiko, dass Serbien mehr Wasser vom Ibar abzweigt. Denn dann müsste Serbien nicht nur mit dem Widerstand von Kosovo-Albaner*innen, sondern auch von den Serb*innen im Kosovo rechnen. Auch wenn es naiv klinge, laut Mijačić bestehe dadurch eine Chance, dass »die Serb*innen im Nordkosovo zu Hüter*innen des Wassers für die KosovoAlbaner*innen werden.«

Trübe Aussichten

Die Umsetzung solcher Vorhaben bleibt aber schwierig. Die nationalistischen Narrative seien zu festgefahren und es gebe keine öffentliche Debatte über den See. Mijačić folgert: »Zusammenarbeit wurde nie versucht.« Trotzdem gibt er die Hoffnung auf eine Zukunft mit gemeinsamen Zielen nicht auf – denn die zunehmende Wasserknappheit wird die Region weiter unter Druck setzen. Er weiß: »Es ist im besten Interesse von Belgrad und Priština Mechanismen der Zusammenarbeit zu schaffen. Und das am besten schon gestern.«

 

Sophia Beiter ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am IDM. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen die Schwarzmeerregion, Sprachpolitik und ethnische Minderheiten.

Ljubiša Mijačić beschäftigt sich mit der Wassersicherheit im Kosovo und entwickelte Möglichkeiten zur Nutzung der Wasserressourcen im Rahmen der interethnischen Versöhnung. Seine Vorschläge präsentierte er Stakeholder*innen des Belgrad-Priština-Dialogs.

IDM Short Insights 26: Five years of Prespa Agreement

 

On 17 June 2018, representatives of the then-republic of Macedonia and Greece signed the historic Prespa agreement, paving the former Yugoslav republic’s way into NATO and the EU. The agreement included a name change of the Republic of Macedonia to North Macedonia and clarification that the Southern-Slavic nation is not related to the ancient kingdom of Macedonia, with which a considerable part of Greeks identify. In exchange the Macedonian language was recognized by the United Nations and Greece stopped its veto on North Macedonia’s NATO and EU accession talks. The Prespa Forum Dialogue 2023 at lake Ohrid looked at good and improvable examples of neighbourly relations in the Western Balkans. These relations are also reflected in the region’s numerous border lakes.


Transcript:

I am in Struga, a town located at the Lake Ohrid in North Macedonia. The shores of this picturesque lake became the scene for several meetings of representatives from the Western Balkan region and the International Community since the Yugoslav Succession Wars. 

So was the Ohrid Framework Agreement signed here in the closeby city with the same name in 2001. This agreement aimed to put an end to violent conflicts within the Former Yugoslav Republic Macedonia and to secure minority rights, especially those of the largest ethnic minority, the Albanians, in order to consolidate the sovereignity and territorial integrity of the country, although tensions continue to flare up time and again. 

In March of 2023, Kosovos Prime Minister Albin Kurti and Serbian President Aleksandar Vucic met in Ohrid to discuss the so-called European Proposal aiming for normalization of relations between both countries. Although EU foreign policy chief Josep Borrel tweeted “We have a deal” after the meeting, both parties did not sign the agreement and the implementation of respective proposal is still pending. In the last days violence is escalating in the Serb-majority North of Kosovo, making a peaceful resolution in the near future even more unlikely. 

This week, the Prespa Forum Dialogue took place here in Struga. And this very day of recording the video, June 17 2023, marks five years of signing the historic Prespa Agreement between North Macedonia and Greece. In 2018, representatives of Greece and the then-republic of Macedonia met at the closeby lake Prespa on the borders of Albania, Greece and North Macedonia and signed the agreement paving the former Yugoslav republic’s way into NATO and the EU. The agreement included a name change of the Republic of Macedonia to North Macedonia and clarification that the Southern-Slavic nation is not related to the ancient kingdom of Macedonia, with which a considerable part of Greeks identify. In exchange the Macedonian language was recognized by the United Nations and Greece stopped its veto on North Macedonia’s NATO and EU accession talks. North Macedonia became a NATO member in 2020 and EU accession talks began in 2022. 

I had the pleasure to speak at a panel at the 2023 Prespa Forum Dialogue about youth’s contribution to the energy transition and a sustainable future for all. In order to achieve these goals, cross-border cooperation is inevitable. Environmental protection does not stop at borders, the air, rivers and lakes do not know borders – Lake Prespa, but also Lake Ohrid are perfect examples for this. The dispute between Kosovo and Serbia is also reflected in a border lake, namely lake Gazivoda. How this conflict flows into environmental and energy issues is described in our upcoming issue of our German-language magazine Info Europa. “Kampf ums Wasser”, meaning “The fight for water” is published on 15th July as supplement to the Austrian daily Die Presse and a free-of-charge ePaper. So make sure to read this and many more interesting stories about environmental, social and also military conflicts in the region. 

IDM Short Insights 25: Bulgaria’s New Government: Pro-European, Yet Divided

 

Two months after the parliamentary elections in Bulgaria, a new government has finally been formed. The conservative centre-right alliance GERB-SDS and the liberal alliance “Change Continues – Democratic Bulgaria” will form a joint 18-month government with rotating prime ministers. First, Nikolay Denkov from the liberals will become prime minister. After nine months Mariya Gabriel from GERB-SDS will succeed him. The new Bulgarian government is expected to pursue a pro-European agenda. At the same time, the alliances will have to bridge their differences to provide long-term stability for Bulgaria.


Transcript:

Bulgaria has formed a new government. For many this may come as a surprise and relief at the same time. The elections in April 2023 marked the fifth parliamentary election within a span of only 2 years. Now the winner of the election, the conservative centre-right alliance GERB-SDS, and the liberal alliance “Change Continues – Democratic Bulgaria” have reached an agreement. They will establish an 18-month joint government with rotating prime ministers. In a vote in parliament on 6 June, the government was confirmed with 131 out of 200 votes. First, the liberal’s former Education Minister, Nikolay Denkov, will assume the role of Prime Minister. After nine months he will be succeeded by former EU Commissioner Marija Gabriel from the conservative GERB-SDS.  

Bulgaria is in urgent need of stable governance. Whether the new government can provide long-term stability remains to be seen. The negotiations between the alliances were challenging. During the election campaign, the liberals firmly rejected any idea of a coalition with the conservatives. Talks even experienced a temporary freeze due to a leaked video of the liberals’ internal discussions. The deep divisions and lack of trust between the alliances are evident. But they also have some common goals. The new government will pursue a pro-European agenda. Bulgaria’s accession to the Schengen and the Eurozone are expected to be among the government’s primary objectives. Both alliances also support providing military aid to Ukraine. Regarding domestic concerns, a comprehensive reform of the judiciary system and combating corruption will be given top priority. It is now up to Denkov and Gabriel to overcome their differences.  

Musik und Ekstase gegen die Traurigkeit

SHMUEL BARZILAI ist seit mehr als 30 Jahren Oberkantor der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) am Stadttempel. Für INFO EUROPA gibt er einen Einblick in die Rolle der Musik im Chassidismus und verrät, was sich hinter der religiösen Ekstase verbirgt.

Eine jüdische Erzählung berichtet von Rabbi Schabtai, einem sehr armen Buchbinder aus einer polnischen Kleinstadt. Trotz all seiner Arbeit konnte er am Schabbat nicht mehr als etwas Brot und gesalzenen Fisch für das gemeinsame Fest aufbringen. Doch der Rabbi blieb trotz aller Widrigkeiten fröhlich und hatte die Angewohnheit, an jedem Schabbat mit großer Freude zu tanzen. Er lebte zur gleichen Zeit wie Israel ben Eliezer (1700–1760), bekannt als »Baal Schem Tov« (Meister des guten Namens), dem Begründer des Chassidismus. Dieser sah die Tänze von Rabbi Schabtai und sagte ihm, dass er als Verdienst für seinen freudvollen G-ttesdienst* einen Sohn zeugen werde, der die Augen Israels erleuchten wird. Und tatsächlich wurde dem armen Buchbinder ein Sohn geboren, der später einflussreiche Lehrer und Prediger Israel Hopstein von Kozienice. Überlieferungen wie diese zeigen, wie zentral das freudvolle Musizieren und Singen im Chassidismus ist.

Die jüdische Erneuerungsbewegung wurde in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Osteuropa gegründet und bildet bis heute einen wichtigen Teil des Judentums. Im Chassidismus sind nicht nur das Studium der Tora, sondern auch kleine Taten (als Dienste an G-tt) von wichtiger Bedeutung. Den G-ttesdienst mit Freude zu verrichten, ist eine Idee, die das äußere Erscheinungsbild des Chassidismus stark prägt. Die Literatur ist voll von Lehren, die diese Absicht zum Ausdruck bringen. Viele im Umfeld des Chassidismus erklärten sie sogar zu einer der Neuerungen, die der Chassidismus brachte, und zu einem seiner typischsten Charakterzüge. Musik ist ein zentraler Ausdruck dieser Freude. Dem Musikforscher Abraham Zvi Idelson (1882–1938) zufolge bestehe der wesentliche Wert der Melodie darin, dass sie zu einem Erwachen und einer Freude führe, denn die Traurigkeit stamme von der »anderen Seite« (Sitra achra). Der Gesang hilft dabei, die Traurigkeit in unserem Inneren zu vertreiben. Denn nur ein G-ttesdienst mit Freude ist ein vollständiger Dienst, und dazu braucht es Gesang und Melodie.

Geschichte und Gegenwart

Blicken wir zurück in die lange Geschichte des Judentums, bildeten Instrumente und Gesang schon früh Fixpunkte des G-ttesdienstes. Im Tempel wurde der Gesang von den diensthabenden Lewiim ausgeführt. Sie sangen im Tempel Gesänge des Dankes und des Lobes, während das tägliche Opfer gebracht wurde, wie im »Buch der Chronik« geschrieben steht. Ihr Gesang im Tempel wurde von Musikinstrumenten begleitet, von Flöte, Harfe und Lyra, von Pauke und verschiedenen Zimbeln. Dieser Gesang der Lewiim wurde nicht als »Hintergrundmusik« verstanden, sondern war integraler Bestandteil des G-ttesdienstes und nach der Meinung von Rabbi Meir konnte er sogar das Opferritual verzögern, wie es im Traktat Erechin des Talmud heißt. Aus dem Tempel wanderte der Gesang in die Synagoge. Sie ist der öffentliche Versammlungsort für das dreimal täglich zu verrichtende Gebet, für die Gebete am Schabbat und Feiertag, für das Lernen der heiligen Bücher (wie Tanach, Mischnah, Talmud etc.), aber auch für verschiedene Zusammenkünfte und Veranstaltungen. Die Synagoge entwickelte ihre Bedeutung im Exil und wurde zum Mittelpunkt des geistigen, moralischen und öffentlichen Lebens des Volkes, sie diente als Befestigung seines Bestehens, und ist gewiss bis heute ein Ort der Ehre und Pracht der Gemeinde Israels. Jedes öffentliche Ereignis und jede Versammlung von Tora-Lernenden, Persönlichkeiten des Gemeindelebens oder Versammlungen des Volkes zu Zeiten der Freude oder der Not hatten ihren Platz in der Synagoge. Das liturgische Rezitativ war und ist die wichtigste Disziplin des Vorbeters. Er macht von verschiedenen traditionellen melodischen Mustern Gebrauch, von denen einige festgelegt, andere flexibel sind. Als Oberkantor habe ich neben der traditionellen Musik auch viele neue Melodien in den G-ttesdienst mitgebracht, damit möglichst viele Gemeindemitglieder mitsingen können. Ich finde, wenn man zusammen singt, kommt nicht nur viel Freude auf, sondern alle fühlen, dass sie nicht nur passiv, sondern aktiv mitbeten können. Ich habe auch einen Kinderchor gegründet. Er singt zusätzlich zu dem Erwachsenenchor an jedem Schabbat und Feiertag. Der Kinderchor bringt frischen Wind und Freude in die Gemeinde und in die Familien, in denen diese Melodien gesungen werden.

Bedeutungsvolle Tänze

Neben dem Gesang spielt auch der Tanz eine wichtige Rolle im Chassidismus. Die religiöse Ekstase, die mit dem Tanz erstarkt und aufsteigt, lässt die Tanzenden die Welt um sie herum vergessen und erhebt sie zum Himmel. Dahinter steht die Überzeugung, dass der G-ttesdienst im Tanz nicht nur mit der Seele geschieht, sondern auch mit dem Körper. Die Freude ist nicht nur in Geist und Seele, sondern auch zur Gänze in uns und unserem Körper. Für diesen Augenblick der Ekstase ist es uns Menschen möglich, unseren Geist nach oben zu erheben und uns mit G-tt zu verbinden. In einem Interview, das ich mit dem ehemaligen Oberrabbiner von Österreich, Rabbi Chaim Eisenberg, führte, brachte der Rabbiner weitere Erklärungen über die Bedeutung von Tänzen im Chassidismus vor: »Zum Beispiel beim Simchat Tora, wenn man mit der Tora in einem Kreis tanzt, so heißt das, man hat den Kreis der Tora-Lesung beendet. Eine andere Erklärung ist, dass im Kreis alle gleich weit von der Mitte sind, und die Mitte ist das Zentrum, und Zentrum ist die Tora, oder der liebe G-tt, und wir sind gleich weit und sollen nicht glauben, der eine ist nahe und der andere ist weit. Diese Tanzbewegungen haben viel zu bedeuten, Tanz ist viel mehr als Disco.«

*G-tt ist eine von mehreren Schreibweisen im Judentum, um das Wort Gott zu vermeiden. Besonders orthodoxen Jüd*innen ist es wichtig, den Namen nicht auf einen menschlichen Begriff zu reduzieren.

 

Mag. Shmuel Barzilai ist Kantor und Komponist, geboren in Jerusalem. Er studierte an der Yeshiva »Beer Yaakov«, K‘nesset Chiskijahu und Hevron, am Rabbiner College in Givataim (Israel), am Institut für Kantoren-Gesang der Stadt Tel Aviv sowie Philosophie und Judaistik an der Universität Wien. Seit 1992 ist er als Oberkantor der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien tätig.

European Elections 2024: What to expect in Central and Eastern Europe

 

The EU has recently approved the dates for the next European parliamentary elections for 6-9 June 2024. On these dates, the Europeans will determine who will sit in the European Parliament for the next five years (2024–2029). The elections simultaneously imply changes in the political leadership in other EU institutions, including the Commission.

Apart from 223 Central and East European (CEE) members of the European Parliament (who constitute 32% of all MEPs), eight of the twelve commissioners from CEE have a low chance of being re-elected. Given this rather significant future re-structuring, one would expect that the discussions about European affairs will heated and the race for European posts competitive.

Here is what you need to know about the patterns and preferences in CEE when it comes to EU elections.

First, despite positive attitudes about the EU membership, the turnout in EU elections is historically low. On average 56% of CEE respondents say their country’s membership of the EU is a good thing. This is only 5% below average for the EU27. But while the EU average is 50.6% (in the 2019 elections),  turnout in the last EU elections was only 38.8% in CEE.

Respondents are most likely to think that EU membership is a good thing for their country in Lithuania (79%), Estonia (66%) and Poland and Latvia (both 65%) compared with 42% in Austria, 46% in Romania and 44% in Slovakia. The highest election turnout is registered in Austria (60%), Lithuania (53%) and Romania (51%). This is in contrast to Slovakia (23%), Czechia and Slovenia (29% each) and Croatia (30%), where the numbers are the lowest.

Interestingly, in Austria, where the EP election turnout (60%) is the highest, the country has the fewest people (42%) in the whole of CEE think who think EU membership is a good thing. Similarly in Romania, while 51% citizens cast their ballots in the EP elections, 46% think EU membership is good for their country (one of the lowest in CEE). On the opposite end of the spectrum is Slovakia, which has the lowest turnout in EP elections (23%) and lowest support for the EU (44%).

Second, CEE citizens tend to be uninvolved in EU affairs and they prefer national rather than EU elections. In general, only 46% (as opposed to 54% on EU average) from CEE are interested in the EU elections in 2024. Only less than four in ten respondents in Czechia, Slovakia (both 27%), Estonia (37%) say they are in interested in the next European elections. Those are the lowest numbers in the whole of the EU. The most excited are Hungarian (59%), Poles and Austrians (both 58%). When it comes to preferences of national rather than EU elections, the lowest difference (which means people are more likely to go to vote in EU elections) are in Romania (national 50%, EU 41%) and Hungary (national 65%, EU 52%). The largest gaps are again registered in Czechia (national 64%, EU 28%), Slovakia (national 58%, EU 26%), and Latvia (national 70%, EU 39%).

Third, most CEE citizens have a neutral view on the European Parliament (43%). Views are most positive in Romania (46%), Bulgaria and Croatia (40% each) and Poland (39%). The most negative are again in Czechia and Slovakia (26% each), but also in Austria (21%), Romania and Hungary (19% each).

Fourth, there are still plenty of myths about the European institutions. For example, that the European Parliament: “has no real power”, “is just a talking shop”, “is a place to make money by national politicians”, that “Member States are under a Brussels diktat’” or that the EU is a ‘bureaucratic monster’ are commonly spread among CEE citizens. The “Qatargate” scandal does not help in building trust and confidence in the European Parliament, or the EU as such. As a result, there is no room for genuine discussions on EU treaty reform, electoral reform (transnational lists), the lead candidate, or ”Spitzenkandidaten”.

Fifth, some CEE governments thrive on conflicts with the EU. The EU bashing makes rational discussion about the EU impossible. Anti-European ruling parties such as Hungarian Fidesz or Polish Law and Justice (Prawo i Sprawiedliwość) send to Brussels and Strasbourg their representatives, who embrace the art of the electoral obstruction, refuse to admit the legitimacy of the European institutions while they happily accept generous remuneration from the EU institutions for their work. If Poland and Hungary do not change their collision course with the EU, the upcoming European elections might be the last before the Euroscepticism blossoms for good in those countries.

Sixth, CEE is far from homogeneous, especially when we add Austria to the mix. This is true for topics such as Russia’s aggression against Ukraine (for example Hungary’s Russia-friendly stance as opposed to hawkishly anti-Russian Polish policy), democracy and the adherence to rule of law (issues in Poland and Hungary in comparison to the Czech Hevellian policy), action against climate change (important for Austria (76%) but only 44% for Estonia), migration policy (extremely important for domestic politics in Austria (74%) and Hungary (75%)) or EU enlargement (supported by 73% in Poland and Lithuania, but only by 37% in Austria).

When it comes to the most pressing concerns in CEE that could potentially become the themes of the next European political campaign, they include the rising cost of living, Ukraine and the potential spread of the war to other countries, migration and Schengen zone enlargement, future EU enlargement and the risks to common European values such as freedom and democracy.

Other more specific issues could include:

  • Support for the economy and the creation of new jobs is the priority topic for 42% in Croatia, 39% in Estonia, 37% in Latvia and Romania.
  • The fight against poverty and social exclusion are the most mentioned topics in Lithuania (50%), Bulgaria (44%) and Slovakia (39%).
  • The EU’s autonomy in the field of industry and energy is considered the top priority in Czechia (49%) and is also chosen by 30% in Estonia.
  • Public health ranks first in Slovenia (42%) and Hungary (40%).
  • The EU’s defence and security, which was chosen as priority topic for 35% in Poland.
  • Interestingly, Austria is again an outlier here, as action against climate change was highest mentioned in Austria (38%). Other CEE countries do not rank this topic high among their concerns.

In short, one year is a long time and creating a list of themes of electoral campaign would be only a guessing game. There is no doubt that the electoral discourse and priorities will be shaped by public sentiment, domestic policies, and regional dynamics leading up to the European parliamentary elections in 2024.

But if the politicians want to engage with the citizens and motivate them to vote, they should start work now. If not, citizens in CEE will remain uninterested and uninvolved, and keep seeing the EU mostly as economic union that provides material benefits. As a result, even if the race for prestigious and lucrative European posts will be competitive, the discussions with the general public will not be heated at all, and the region will be the laggard in the EU elections turnout. They will be lucky if citizens even show up at the events during the EU political campaign.

 

Author: Kinga Brudzińska

Michelkirche, Ukraine, Kyjiw, Krieg, Reisebericht

Vor 100 Jahren in der Zukunft

Anlässlich unserer regionalen Initiativen im Rahmen des 70jährigen Jubiläums des IDM reiste unser Geschäftsführer Sebastian Schäffer Ende April nach Kyjiw. Dort wurde er unter anderem Zeuge von Luftangriffen. Seine Erlebnisse während der Reise hat er in einer interaktiven Story Map zusammengefasst

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Volltext:

Ich scanne mit meinem Mobiltelefon den QR-Code auf dem Tisch in einer Mikrobrauerei am Andreassteig in Kyjiw, um einen Blick in die Speisekarte zu werfen. Plötzlich schrillt eine Sirene und ein Banner erscheint auf meinem Display : „Air alert! There is air alert in Kyiv. Proceed to shelter!”

„War das echt?“, fragt mich die Person, die mir gegenüber sitzt. Es ist nicht der erste Alarm an diesem Tag und ganz generell hat sich auch eine gewisse Indifferenz bei ihr eingestellt. „Ja“, antworte ich und spüre dabei, wie mein Herzschlag deutlich an Frequenz zunimmt. „Ah jetzt sehe ich es auch.“ Sie hat die App seit ein paar Wochen stummgeschaltet. Das ständige Suchen nach jeder noch so kleinen Information nach den unzähligen Luftalarmen im Herbst und Winter haben einen hohen Zoll für die mentale Gesundheit gefordert. „Was machen wir?“, schaut sie mich erst fragend an und lässt dann den Blick durch den Raum schwenken. Meiner folgt ihrem. Keine Aufregung, eher genervte Augen die auf Telefone blicken. Auch hinter der Fensterscheibe auf dem Kopfsteinpflaster ist keine gesteigerte Hektik zu erkennen. „Bier bestellen?“ – „Ok.“

Kraków Główny 

Drei Tage früher fast genau zur gleichen Zeit steige ich in Krakau in einen Zug Richtung Przemyśl. Von der polnischen Grenzstadt, die inzwischen wahrscheinlich bekannter ist als es ihr lieb ist, geht es dann weiter nach Kyjiw. Insgesamt 14,5 Stunden für knapp 860 km, das ging auch schon vor 100 Jahren schneller. Dabei spare ich mir eh einen Teil der Gesamtdistanz von Wien, weil ich bereits zwei Tage an einer Konferenz in Krakau teilgenommen habe. Der Reisetag ist dadurch aber auch extrem lang. Mein 70-Liter Rucksack wird mir in kürzester Zeit schwer auf den Schultern. Ich habe ein Versprechen gegeben, die abgelaufenen Mitbringsel aus dem letzten Jahr zu ersetzen und endlich zu meinem Freund in die ukrainische Hauptstadt zu bringen. Ursprünglich wäre ich am 21. Februar 2022 zu ihm geflogen, habe mich dann aber nicht getraut. Natürlich muss ich das jetzt überkompensieren und habe damit fast Übergepäck. Es würde aber auch niemanden stören, ein Vorteil im Vergleich zum Flug.

Przemyśl

Es nieselt, als ich aus dem leicht verspäteten Intercity der polnischen Eisenbahnlinien PKP steige. Es ist dunkel und auf den ersten Blick nicht zu erkennen, in welcher Richtung sich der Ausgang befindet. Ich folge einfach den vielen scheinbar routinierten Leuten, die sich zielstrebig nach links bewegen. In der Bahnhofshalle dann Helfer*innen mit gelben Westen und Personen in Tarnfarben mit polnischer Fahne am Ärmel. Ich bin unsicher, was ich tun muss, komme aber mit meiner Frage auf Englisch nicht sehr weit. Die von mir angesprochene Gelbwestenträgerin fragt daher auf Polnisch in die Runde, ob hier nicht jemand Englisch spricht. Eine ukrainische Teenagerin, die mit ihrer Mutter reist, bietet sich sofort an. Dank ihrer Hilfsbereitschaft sowie meines bruchstückhaften Ukrainisch weiß ich nun, dass ich nur mit Fahrkarte in die Ukraine den Warteraum links betreten darf und ich mich 40 Minuten vor Abfahrt hinten bei einem abgetrennten Bahnsteig einfinden soll. Bevor ich mir einen Stempel hole, der ermöglicht, nicht jedes Mal die Fahrkarte vorweisen zu müssen, wenn man sich zu den anderen wartenden Personen setzen möchte, will ich sehen, ob ich noch etwas zu essen finde.

In dem direkt am Bahnhofsvorplatz gelegenen Imbiss mit einheimischen Spezialitäten lässt sich trotz Türklingel, die automatisch bei meinem Betreten ausgelöst wird, niemand blicken. Ich verstehe den Hinweis und suche nach Alternativen. Inzwischen regnet es richtig und ich trage meine Überkompensation auf den Schultern.  Zumindest Wasser sollte ich mir organisieren. Zum Glück trage ich Funktionskleidung und ziehe mir die Kapuze über den Kopf. Vorbei an dem Hotel, in dem ich bei der Rückfahrt übernachten werde, ein wenig bergauf zu einer Kreuzung, wo der Deutsche in mir trotz des kaum vorhandenen Verkehrs an der roten Ampel Halt macht. Ein polnischer Kiosk namens Żabka, an dem man auch noch spätabends Grundnahrungsmittel bekommt, befindet sich auf der anderen Straßenseite. Ich erkenne, dass meine Sitznachbarin aus dem Intercity an der Apotheke um die Ecke abbiegt. Sie hatte abgepackte Nüsse dabei und wirkte allgemein wesentlich besser vorbereitet als ich, weshalb ich davon ausgehe, dass sie nicht so ziellos umherläuft wie ich. Tatsächlich sind in der Straße ein paar Restaurants. Ich entscheide mich für die Pizzeria. Keine gute Wahl. Es ist schließlich schon fast halb zehn, die Küche ist schon kalt, schließlich schließt man um 22:00 Uhr. Auf die Frage, ob ich noch etwas zu trinken bekommen kann, dreht sich die Kellnerin kurz zur Bar und verneint anschließend. Geschickt weicht sie auch aus als ich frage, ob ich zumindest die Toilette benutzen dürfte. Sie deutet nach draußen und sagt mir dann nach links. Ihr Daumen zeigt dabei auf das WC-Schild hinter ihr. Mamma Mia. Die Ironie lässt mich schmunzeln und ich schultere wieder meinen Rucksack. Wie schon an so vielen Abenden zuvor rettet schließlich der Dönerladen meine Gesamtsituation.

Zurück in der Bahnhofshalle sitze ich auf einem der zusätzlich aufgestellten Sessel und versuche die Geschichten hinter den müden Gesichtern zu erraten. Viele Mütter mit Kleinkindern bis Teenager, einige ältere Menschen, kein einziger erwachsener Mann im wehrpflichtigen Alter. Außer mir. Gegen 22:50 Uhr gehen Mutter und Tochter, die mir bei der Ankunft Auskunft gegeben haben, an mir vorbei und lächeln mich an. Ich lächle zurück und mache mich ebenfalls auf den Weg. Wir stehen gemeinsam in der Schlage, die sich von einem Gebäude ins nächste schlängelt. Daneben ein Zelt der Caritas. Der Regen ist wieder zu einem Nieseln geworden. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie es hier im Winter gewesen sein muss. Wir wechseln kein Wort, was insbesondere meinen Kopfhörern geschuldet ist, tauschen aber hin und wieder Blicke und Gesten aus. Ich passe auf den Rollkoffer auf, als beide kurz verschwinden. Die Größe ist im Vergleich zu meinem Rucksack geradezu lächerlich klein, was entweder eine gewisse Regelmäßigkeit der Reise vermuten lässt, oder einen Kurztrip. Die Routine im Ablauf sowie die vergleichsweise gute Laune lässt mich zu Ersterem tendieren.

Um 23:40 Uhr bin ich endlich im Zug. Zehn Minuten vorher war die geplante Abfahrt und ich stand noch in der Halle mit den Grenzkontrollhäuschen. Draußen fuhr ein Zug der ukrainischen Bahn vorbei und mein Herzschlag setzte kurz aus. Dann erinnerte ich mich an einen anderen Reisebericht, in dem stand, dass der Zug erst losfährt, wenn alle durch die Kontrolle gegangen sind. Im Vergleich zu meinen sonstigen Reisevorbereitungen habe ich mich durchaus ausführlicher mit dem Ablauf beschäftigt. Trotzdem wollte ich auch irgendwie nicht zu viel darüber nachdenken. Möglicherweise aus Angst vor der eigenen Courage. Je näher die Reise kam und ich mit Personen über meinen Plan nach Kyjiw zu fahren sprach – unabhängig davon, ob sie das schon selbst gemacht hatten oder nicht – desto nervöser wurde ich. Meine Frau findet ganz grundsätzlich, dass es eine dumme Idee war, kennt mich aber lange genug, um zu wissen, dass mich fast nichts abhalten kann, wenn ich mir etwas richtig in den Kopf gesetzt habe. Und erst recht nicht, wenn ich das in einem publizierten Buch aufgeschrieben habe.

Als ich in meinem Wagon ankomme, ist mein Platz besetzt. Drei Generationen einer Familie. Statt am Fenster sitze ich jetzt eben am Gang, und statt neben der Mutter nun neben der Tochter, damit die Großmutter sitzen bleiben kann. Wir tauschen uns kurz aus und ich biete ihr die Nüsse an, die ich inzwischen besorgt hatte. Sie lehnt ab und holt ihr Handy hervor. Genervt blickt sie auf die Uhrzeit und mir ist das natürlich sofort sympathisch. Zwei Minuten vor Mitternacht setzen wir uns in Bewegung, 28 Minuten Verspätung schon zu Beginn. Als ehemaliger Bahn.Bonus-Status-Besitzer weiß ich, was das in Deutschland bedeuten würde. Bei der Abfahrt macht meine Sitznachbarin tatsächlich die Becker-Faust und ich muss mich sehr zusammenreißen nicht laut loszulachen.

Lwiw

Um genau 0:25 Uhr überqueren wir die Grenze und ich bin zum ersten Mal seit Oktober 2019 wieder in der Ukraine. Knapp eine Stunde später erreichen wir Lwiw. Es ist 02:30. So viele schöne Erinnerungen an diese Stadt kommen zurück. Wie es jetzt wohl sein mag? Ob es all die unterschiedlichen Themenrestaurants noch gibt? Die Kaffeemine. Die Brauerei, die das Bier „Frau Ribbentrop“ herausgebracht hat. Die betrunkene Kirsche. Ich hatte überlegt, einen Stopp auf der Reise einzulegen. Aber das Programm war eh schon voll, ich muss das einfach zu einer anderen Gelegenheit herausfinden. Eine andere Geschichte zur Stadt erzählte mir der Vater meines Freundes, für dessen Geburtstag ich auch nach Kyjiw reise. Im Zuge der vollständigen Invasion durch die Russische Föderation fuhren sie im März 2022 nach Westen, um sich in Sicherheit zu bringen. Nachbar*innen aus Kyjiw informierten ihn, dass die Druckwelle einer Raketenexplosion die Fenster in seiner Wohnung zwar nicht bersten hat lassen, diese aber aufgedrückt hätte. Leider waren seine direkten Nachbar*innen, die seinen Schlüssel hatten, ebenfalls geflohen. Also ließ er ihn in Lwiw nachmachen und schickte ihn mit der Nova Pošta in die Hauptstadt. Einen Tag später konnten die Fenster geschlossen werden. Insgesamt schauen die Leute nun viel mehr aufeinander, auch wenn man vorher kaum etwas miteinander zu tun hatte, schließt er seine Geschichte.

Wesentlich weniger interessant ist dann meine Weiterfahrt. Einfach weil es dunkel ist. Normalerweise schlafe ich sehr schlecht in sich bewegenden Objekten. Meistens nur dieser Sekundenschlaf, nach dem man noch geräderter aufwacht. Dieses Mal geht es aber erstaunlich gut. Zumindest immer wieder am Stück. Zugegeben: Ich habe ein Erste-Klasse-Ticket gebucht, man hat großen Abstand zwischen den Sitzen und nicht jede Bewegung der Mitreisenden weckt einen auf. Es geht auch ohne Reservierung des Nebenplatzes, zu der man mir geraten hatte, um sich ein wenig ausstrecken zu können. Es gibt genug Platz für die Füße im IC+ und sich quer über die Sitze legen würde aufgrund der Abstände auch nicht wirklich gut funktionieren. Wer wirklich liegen möchte, sollte lieber gleich die Verbindung mit Schlafwagen nutzen. Wer oft aufstehen muss, sollte lieber den Gangplatz wählen, die linken Sitze in der Buchungsmaske stehen (meist) in Fahrtrichtung nach Kyjiw, rechts dann bei der Rückfahrt. Die Buchung fand ich sehr einfach, gerade im Vergleich zur polnischen PKP. Leider kann ich die App der Bahngesellschaft Ukrzaliznycja nicht nutzen, weil dafür eine ukrainische Mobilnummer notwendig ist. 20 Tage vor Abfahrt kann man die Tickets buchen. Inzwischen sogar eine Direktverbindung von Wien, die nach knapp 24 Stunden über Budapest und Lwiw nach Kyjiw fährt.

Kyjiw

Zwei Minuten vor der geplanten Ankunft um 10:06 Uhr halten wir in Kyjiw-Pasažyrskyj. Ich bin zwar müde, aber sehr glücklich meinen Freund am Ende der Treppe zu sehen. Weder auf der Fahrt noch jetzt, da ich angekommen bin, stellt sich ein Gefühl der Angst ein. Ich war unsicher geworden. Insbesondere nach einem Gespräch, in dem mir illustriert wurde, dass zwar bisher noch keine Züge getroffen wurden, aber es ja durchaus passieren kann, gerade wenn man über eine Brücke fährt, zum Beispiel. Außerdem wären ja Waffentransporte ein militärisches Ziel und die erfolgen auch mit Zügen. Aha. Na Danke für diesen Gedanken. Als ob Putin zwischen zivil und militärisch unterscheiden würde. Auf jeden Fall ist es, wie eine ukrainische Kollegin mir in einem Gespräch mitgeteilt hatte. Manchmal sieht es von der Ferne gefährlicher aus, als wenn man nahe dran ist.

Irpin

Das gilt allerdings nicht für tatsächliche geschehene Grausamkeiten. Nach einer Dusche und nachdem mein Freund und ich versuchen, uns die vergangenen dreieinhalb Jahre, in denen wir uns nicht persönlich gesehen haben, zusammenzufassen, fahren wir auf seinen Vorschlag nach Irpin. Er erzählt mir, dass es schon wesentlich mehr wiederaufgebaut ist als seit seinem letzten Besuch. Dennoch ist es bedrückend und mit Worten nur schwer zu beschreiben.

Kyjiw

Reinfeiern in den Geburtstag meines Freundes in einer Bar geht aufgrund der Sperrstunde um 24:00 Uhr nicht. Neben den Bildern aus Irpin auch immer eine Erinnerung an die Tatsache, dass man sich in einem Land im Kriegszustand befindet. Sonst könnte man es auch leicht vergessen. Das Restaurant, in dem wir Abendessen, ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Karte wird auch hier über den QR-Code abgerufen. Und darüber kann man auch bezahlen. Dabei hatte ich mich so gut vorbereitet auf Ukrainisch um die Rechnung zu bitten. Am nächsten Tag gehen wir dann für das geplante Geburtstagsbarbecue einkaufen. Im Baumarkt besorgen wir Kohle, gleich am Eingang sind unterschiedliche Modelle von Generatoren erhältlich. Alle reduziert. Ich werte das als gutes Zeichen. Tatsächlich gab es seit Anfang März keine Raketenangriffe mehr, Stromausfälle selten und die Unterteilung des Tages in Einheiten mit Elektrizität und ohne ist nur noch eine Geschichte, die mir ein Kollege am nächsten Tag nach unserer gemeinsamen Veranstaltung erzählt.

Der Abend wird ganz wunderbar. Es gibt viel zu Essen, das wir auf dem Markt besorgt haben. Bier, Wein, Whiskey. Musik, Gesang und lustige wie traurige Geschichten. Rechtzeitig vor der Sperrstunde wird das neue Album von The National veröffentlicht, sodass wir es noch in der Runde hören können. Leider müssen die letzten Gäste aber dann gegen 23:30 Uhr gehen. Und da ist sie wieder die Erinnerung. Kriegszustand. Und nur, damit wir es nicht vergessen, gibt es um 04:01 Uhr Luftalarm.

Letztendlich ist es genauso unspektakulär wie dieser Satz. Meine App löst nicht aus, weil mein Telefon im Schlafmodus ist. Ich bin offensichtlich wirklich nicht gut vorbereitet. Mein Freund weckt mich leise und flüstert fast: „Du könntest ein paar Explosionen hören.“ Er hat es kaum ausgesprochen, schon gibt es unnatürliche Geräusche und einen Knall. „Müssen wir etwas tun?“, frage ich nicht nur schlaftrunken. „Ich denke nicht.“ IRIS-T SLM, oder ein anderes Luftverteidigungssystem, regelt das tatsächlich. Gegen 6:25 Uhr gibt es Entwarnung. Leider ist es nicht für alle so glimpflich ausgegangen. In Uman trifft eine Rakete ein Wohnhaus. Tote und Verletzte. Freund*innen, Kolleg*innen und meine Familie schreiben mir. Es schafft es also auch in internationale Medien. Im Nachhinein Berichte darüber zu lesen trifft mich nochmal anders. Die Direktorin des Instituts, mit der ich das Event später um 11:00 Uhr organisiere, entschuldigt sich, dass ich das erleben musste. Ich antworte, dass es für mich einmal so war, für sie aber seit 14 Monaten so ist. Dennoch muss ich in meinen Eröffnungsworten natürlich darauf Bezug nehmen. Unser Thema dreht sich letztendlich auch um Sicherheit.

Während der Fahrt von Teremky, der Endstation der blauen Metrolinie, in deren Nähe ich übernachte, nach Majdan Nezaležnosti Matt Berningers Stimme auf den Ohren zu haben verursacht Gänsehaut. Ganz echte, sichtbare und nicht nur eine Phrase, die ich sonst über ein für mich besonderes Lied oder Album auf Sozialen Medien posten würde. Ich werde abgeholt. Also von einem Kollegen, nicht nur von den Liedern. Es ist nicht so einfach sich im Labyrinth der Station zu finden. Außerdem hat sie erst kürzlich wieder geöffnet. Die verzweigten Tunnel ermöglichen einen direkten Zugang zum Präsidentenpalast. Wir gehen nicht wie bei meinem letzten Besuch am Michaelsplatz die ebenfalls nach Michael benannte Straße hinauf, sondern parallel dazu zum Institut für Philosophie der ukrainischen Akademie der Wissenschaften, in dessen Gebäude sich die Büros unserer Kooperationspartner*innen befinden.

Im Gebäude grüßt der Portier jovial. Im vierten Stock ist es dann ernster, dort befinden sich Polizei und Militär auf einem Kontrollgang. Aus dem Fenster hat man eine ideale Schusslinie auf das St. Michaelskloster. Die slowakische Präsidentin und der tschechische Präsident sind in der Stadt. Unser Event ist natürlich von den aktuellen Ereignissen geprägt, es ergibt sich aber eine, wie ich finde, sehr spannende Diskussion, die sehr offen und ehrlich geführt wird. Zudem beteiligen sich auch die Teilnehmer*innen im Webinar mit interessanten Fragen. Es gerät fast in den Hintergrund, dass es sich auch um eine Veranstaltung im Rahmen unserer 70-Jahre-IDM Aktivitäten handelt, was ja einer der Hauptgründe für meine Reise ist.

Anschließend gehe ich mit den beiden Mitarbeiter*innen des Ukrainian Institute for International Politics (UIIP) auf einen Spaziergang durch das Viertel. Entlang an der „Memory Wall“, an der die gefallenen Soldat*innen seit 2014 mit Bildern verewigt werden. Die Wand musste bereits zweimal erweitert werden. Es hört und hört nicht auf. Ich merke wie sich ein Klos in meinem Hals bildet. Als ich auf das Geburtsdatum eines Soldaten schaue und 2001 lese muss ich hörbar einatmen. So jung, so tapfer, aber auch so unnötig. Wofür? Vor der Diplomatischen Akademie der Ukraine dann eine Ausstellung einiger russischer Panzer sowie beschossene Autos, ein Anblick, den ich schon aus Irpin kenne. Dahinter drei Sandsacktürme. Sie schützen das Denkmal der Fürstin Olga, an das ich keine Erinnerung von meinem letzten Besuch habe. Ich war mir sicher, die Demonstration, die ich im April 2019 dort aus dem Fenster beobachtet hatte, fand auf einem leeren Platz statt.

Wir machen einen Halbkreis zurück in Richtung St. Michaelskloster. An mehreren aufgestellten Wänden sind Bilder aus Warschau 1944 und daneben aus Mariupol 2022 aufgereiht, die ähnliche Motive zeigen. Zerbombte Häuser, brennende Gebäude, Leichensäcke, erschossene Personen. Die Konstruktion schwankt gefährlich im Wind, vielleicht sind es aber auch meine Knie, die nach diesem visuellen Schlag in die Magengrube drohen nachzugeben. Wir setzen unseren Spaziergang fort, auch wenn mir das Wort unpassend erscheint.

Ich versuche von meinen beiden Begleiter*innen herauszufinden, wie sie die letzten Monate erlebt haben und wie sie mit der Situation umgehen. Wir erreichen die Brücke, die den Wolodymyr-Hügel und Chreschtschatyi Park verbindet. Diese wird im Volksmund auch Klitschko-Glas-Brücke genannt, weil die beiden ehemaligen Boxer-Brüder zur Eröffnung auf dem Plexiglas herumgesprungen sind, um die Stabilität der Struktur zu bestätigen. Mein Begleiter wartet nur darauf, dass ich auch darauf trete, um mir dann zu erzählen, dass die Brücke von einer Rakete beschädigt wurde. Während aus meinem Gesicht die Farbe weicht, muss er herzlich lachen. Natürlich hat man die Schäden umgehend beseitigt, was er mir allerdings erst nach einer kurzen dramaturgischen Pause sagt. Resilienz und Innovation. Ersteres bewiesen durch den Umgang mit den Grausamkeiten des Krieges, von Letzterem werde ich unmittelbar danach ebenfalls Zeuge. Eine Frau macht ein Foto von uns, geht zu ihrem Laptop, druckt eine Zeitungstitelseite aus und gibt sie uns. Die Bezahlung erfolgt mit einer App, in der man den Code der Dame eingibt. Das Ganze dauert keine fünf Minuten und wir haben nicht nur für einen guten Zweck gespendet, sondern auch eine Erinnerung an unseren Ausflug.

Durch den Freiheitsbogen des ukrainischen Volkes gehen wir zurück zum Majdan, auf dem die Tulpen blühen. Dieses Mal geht es die Michaelstraße hinauf, vorbei am Außenministerium zu dem Restaurant, in dem der Gewinner von Master Chef Ukraine kocht. Ich esse den wahrscheinlich besten Borschtsch meines Lebens, kann ihn nur nicht bezahlen, weil meine Bank mir wahrscheinlich nicht glaubt, dass ich mit meiner Karte in der Ukraine bin. Dankenswerterweise springt eine Kollegin ein und wir machen uns den Andreassteig entlang auf die Suche nach einer Möglichkeit Geld zu wechseln, damit ich meine Schulden begleichen kann. Wir kommen am Mykola-Hohol-Denkmal vorbei, das ebenfalls mit Sandsäcken umgeben ist, nur sein Kopf schaut heraus. Warum dieser nicht geschützt wird, erschließt sich mir nicht. Wir werden schließlich an dem Platz fündig, auf dem ich vor ein paar Jahren das zweifelhafte Vergnügen hatte in das Zibertfest zu platzen. Ein Bierfest, das so tut als würde es im September in München stattfinden, dann aber die Maßkrüge aus Zwei-Liter-Plastikflaschen füllt. Jetzt steht dort ein Riesenrad. Vielleicht war es auch damals schon da. Ein fotografisches Gedächtnis habe ich schon mal nicht.

Ich bin im Anschluss mit zwei Ukrainerinnen verabredet, die im April 2022 kurzzeitig bei mir wohnten, während sie auf ihr Visum für das Vereinigte Königreich warteten. Sie sind schon länger wieder zurück in Kyjiw. Wir wollen uns in einem Café treffen. Als ich durch die Eingangstüre gehe, habe ich kurz das Gefühl durch ein Portal direkt in ein hippe Kaffeemanufaktur im Berliner Prenzlauer Berg zu treten. Es ist kein Platz frei, wir haben nicht reserviert. Ich schaue mich um, vielleicht sind sie ja schon da. Ich erblicke ein bekanntes Gesicht, mein Gehirn braucht etwas länger, um den Netzhautreiz zu verarbeiten. Ich winke schon fast, als ich realisiere, dass es sich nicht um eine meiner Bekannten handelt. Es ist meine Sitznachbarin aus dem Zug von Krakau. Bevor sie noch den Eindruck bekommt, dass ich sie stalke, mache ich auf dem Absatz kehrt und koordiniere einen neuen Treffpunkt. Es ist nicht einfach in der Umgebung etwas mit freien Plätzen zu finden, was ich generell wieder als gutes Zeichen werte. Wir sitzen aufgereiht an einer Bar, die viel zu viel Auswahl an Bier in viel zu kleinen Gläsern ausschenkt, und unterhalten uns. Eigentlich spricht hauptsächlich eine von uns. Vielleicht als Berufskrankheit, sie ist Lehrerin. Aber ich habe sie auch seit einem Jahr nicht mehr gesehen, während ihre Cousine dazwischen öfter in Wien war und dabei auch mich besucht hatte. Die Pädagogin muss noch ihren Unterricht vorbereiten, und verabschiedet sich. Ihre Cousine und ich beschließen weiterzuziehen. Sie kennt da eine Mikrobrauerei.

Und damit sind wir wieder am Anfang dieses Reiseberichts angekommen. Nach knapp einer Stunde gibt es Entwarnung. Ich bestelle noch ein Bier und Snacks dazu. Unsere Gespräche drehen sich um durchaus schwere Themen, doch der Krieg ist keines davon. Geht das überhaupt? Wahrscheinlich muss es sogar. Es ist wie bei so vielen Dingen, niemand will auf nur eine Sache reduziert werden. Und das Leben geht weiter. Auch wenn über dir die Luftverteidigung arbeitet. Wir fahren noch zwei Metro-Stationen gemeinsam, am Ploschtscha Lva Tolstoho verabschieden wir uns mit einer Umarmung und dem Versprechen, uns bald wieder zu sehen.

Gleiches Prozedere, nur mit anderen Personen am nächsten Tag am Bahnhof. Ein letzter Blick zum Abschied und Hände, die winken. Unvermeidlich der Gedanke, den man sonst nicht unbedingt bekommt. Es gibt dieses Video, in dem die einfache, aber eindrucksvolle Rechnung aufgemacht wird, wie oft man seine Eltern im Leben noch sehen wird. Gerade, wenn man weiter voneinander entfernt lebt, reduziert sich diese Zahl dramatisch. Meine Sicht verschwimmt. Regen prasselt an die Scheiben des anfahrenden Zugs. Wasserballonaugen.

Ich benötige mehr als die Hälfte der Fahrt nach Przemyśl bis ich auch nur ein Wort aufgeschrieben habe. Mir fällt kein Einstieg ein, ganz zu schweigen von einem Titel. Während an mir die Landschaft vorbeizieht, haben meine Gedanken wahrscheinlich zum ersten Mal seit Tagen die Möglichkeit einfach nur zu wandern. Und dann kommt es ganz plötzlich. Den Rest der Fahrt verbringe ich fast manisch damit das Erlebte niederzuschreiben. Ein Wettlauf. Kommt meine Geschichte oder der Zug zuerst über die Grenze? Wir erreichen erneut pünktlich unser Ziel. Auch mein Ringen mit den Worten ist in Przemyśl angekommen. Allerdings erst bei der Hinfahrt. Ich werde aber noch ausreichend Zeit bekommen, sie zu Ende zu schreiben, bevor ich zurück in Wien sein werde.

Welcome to Europejski / Dobry wieczór, my z Europy

Wir dürfen eine halbe Stunde lang nicht aussteigen. Das ist aber weniger schlimm als der 15-minütige Halt kurz nach der Grenze, weil ich mich da nicht mit dem polnischen Mobilfunknetz verbinden konnte und so komplett abgeschnitten von der Welt war, da meine mobilen Daten für das ukrainische Netz schon in Lwiw aufgebraucht waren. (Oder wie die zu diesem Zeitpunkt noch vor mir liegende Rückreise von Krakau nach Wien, die dank Flugausfall und fehlender Kooperation von Austrian Airlines, genauso lange gedauert hat wie die beiden Zugfahrten Przemyśl-Kyjiw und Kyjiw-Przemyśl, aber dieser Treppenwitz ist eine andere Geschichte…). Dann wieder anstehen in der Kontrollhäuschenhalle, nur jetzt von der anderen Seite. Da ich einer der wenigen mit EU-Pass in der Schlange bin, wird die mit dem EU-EWR-CH-Schild gekennzeichnete Kabine für alle geöffnet. Soll mir recht sein, ich habe es nicht eilig, weil ich die Nacht im Przemyśl verbringen werde und bereits einen ungefähren Eindruck habe, welche Art von Zimmern mich erwartet. Meinen Rucksack muss ich danach noch in einen Scanner schieben, nur sitzt am anderen Ende niemand, um das Röntgenbild anzusehen. Dann hätte ich das ganze Essen gar nicht aufessen müssen. Ein wenig wiederholen sich ja ständig Dinge auf dieser Reise.

Auf jeden Fall komme ich wieder durch die Bahnhofshalle und wer steht hinter dem Welcome-Desk? Die Gelbwestenträgerin von der Hinfahrt. Ich freue mich sehr, dass ich ausgerechnet ihr meine übrigen Hrywnja in die Hand drücken kann, aber sie deutet nur auf die andere Seite, wo sich die Ticketschalter befinden. Ich sage ihr lachend, dass ich das Geld gerne spenden würde und bevor sie wieder jemanden sucht, der mein Englisch versteht, drehe ich mich um und gehe in das Hotel Europejski.

Es bleiben zahlreiche Eindrücke und auch ein paar neue Erfahrungen. Nicht alle davon muss man machen. Ich habe auch Neues gelernt. Zum Beispiel, dass mit Bajraktarschtschina ein eigenes Wort für die teilweise absurde Verwendung ukrainischer Kriegssymbole und patriotischer Memes existiert. Dies ist angelehnt an die türkische Drohne Bayraktar, die insbesondere durch die ukrainische Armee zum Einsatz kommt. Es verfestigt sich aber auch eine Erkenntnis, die ich bereits zuvor hatte: In meinen Gesprächen mit Ukrainer*innen benutzen sie immer wieder das Wort Europa synonym mit der EU. „Wenn ich nach Europa fahre.“ Dass dieses Hotel genau diesen Namen trägt, mich aber eher an das Student*innenwohnheim im russischen Saratow erinnert, in dem ich für eine Konferenz mal übernachtete, ist schon sehr symbolisch. Weil das eben alles Europa ist. Ich habe auf jeden Fall nicht das Gefühl nach Europa gefahren zu sein. Ich war schon die ganze Zeit da.