Die Zukunft ist noch nicht vorbei!

Arbeitslosigkeit, Ausgeschlossenheit, multiple Krisen: Die Jugend in den ex-jugoslawischen Ländern scheint perspektivlos. PIA BREZAVŠČEK zeigt, wie Künstler*innen mit Blick in die Vergangenheit die Zukunft zurückerobern.

Womöglich sind Sie mit dem Futurismus bekannt. Die in Italien begründete Kunstströmung verbreitete sich Anfang des 20. Jahrhunderts zuerst in Europa und schließlich auch über den Kontinent hinaus. Doch haben Sie auch vom Jugofuturismus (Yugofuturism, YUFU) gehört? Im kommenden versuche ich, Ihnen die künstlerisch unausgeschöpften Potenziale dieses Konzepts zu erläutern, das auch unserer Jubiläumsausgabe der Zeitschrift Maska ihren Namen schenkte. 

Maska ist ein über 200 Jahre altes Institut für Verlagswesen und Performancekunst in Slowenien. Nach der 22-jährigen Leitung durch den Künstler Janez Janša* traten wir als neues Team seine Nachfolge an. Wir gehören zu einer Generation, die Jugoslawien nie bewusst miterlebte. Dennoch haben wir Erfahrungen zweiter Hand: die noch existierende Infrastruktur und Architektur, die Geschichten unserer Eltern und Großeltern. Sie wuchsen in einem multiethnisch und sozialistisch geprägten Umfeld auf, in dem die Menschen größtenteils glaubten, eine gemeinsame Zukunft aufzubauen. Wir hingegen sollten globalisierte Kinder einer neugeborenen Republik Slowenien werden. Im Gegensatz zu anderen Nachfolgestaaten Jugoslawiens war unser Abschied vom alten Staat nicht allzu traumatisch, doch der Enthusiasmus für einen neuen slowenischen Nationalstaat wurde durch die Privatisierung und die spätere Finanzkrise schnell gedämpft. Die Wende hat unsere Zukunft abgeschafft. Vor allem Millennials und jüngere Generationen verloren durch die Transformation zum Kapitalismus den Glauben an den „Fortschritt“. Ökologische und politische Krisen lassen uns vielmehr einen Weltuntergang erahnen. 

Der Appell in Form des Jugofuturismus beruht dennoch nicht auf einem Gefühl der Nostalgie. Jugoslawien zerfiel auf eine brutale Art und Weise, was kaum die Folge eines perfekten Staatsmodells sein kann. Der Staat war nicht frei von Nationalismen, Chauvinismus und Aufhetzung – Aspekte, die wir nicht vermissen. Doch in der damaligen Multiethnizität, im sozialistischen Feminismus, im Prinzip der Gleichheit aller Menschen und dem Recht auf ein sinnerfülltes Leben und Freizeit sowie im sozialen Wohnbau sehen wir eine Fülle unausgeschöpfter Potenziale. Jugofuturismus soll kein neues politisches Programm für die Zukunft sein, er ist das Politikum an sich, wieder an die Zukunft zu glauben. Er gibt den Mut, uns die Mitgestaltung der Welt anzueignen und uns nicht einfach den Regeln eines hegemonialen Plans anzupassen. Seit unserer Jubiläumsausgabe 2020 haben wir daher eine Vielzahl unterschiedlicher Projekte realisiert. Autor*innen aus dem ehemaligen Jugoslawien, Bulgarien und dem Vereinigen Königreich trugen bisher mit künstlerischen oder theoriebezogenen Artikeln zu unserer Zeitschrift bei. 2021 organisierten wir eine Konferenz auf der 34. Biennale für grafische Künste in Ljubljana, die dem jugoslawischen Technologiekonglomerat Iskra Delta gewidmet war. Eine weitere Konferenz fand 2022 auf dem Internationalen Theaterfestival BITEF in Belgrad statt. Da wir unser Projekt allen Interessierten zugänglich machen möchten, richteten wir mit der Open Source Programmierergruppe Kompot eine Internetseite ein. Hier kann jede*r Gedanken zum Jugofuturismus teilen und direkt neue Konzepte hinzufügen oder bestehende bearbeiten. So entsteht ein kollaboratives, dezentralisiertes „jugofuturistisches Manifest“. 

Peripherie empowern 

In Anlehnung an das Konzept des Afrofuturismus kann eine weitere politische Dimension auf den Jugofuturismus angewendet werden: Ethnische oder anderweitig marginalisierte Gruppen haben die künstlerische Kraft, Identitäten und Gesellschaften wiederherzustellen oder zu reparieren, die als zukunftslos und rückständig bezeichnet werden. Die Nachfolgestaaten Jugoslawiens unterschieden sich teilweise stark in Bezug auf ihre wirtschaftliche Situation und die Einbindung in die EU. Doch ihnen allen ist eine gewisse Zukunftslosigkeit gemein, die sich in Jugendarbeitslosigkeit, Abwanderung und Wirtschaftsmigration zeigt. Viele haben zudem das Gefühl nur am Rande Europas zu existieren. Aus dieser Perspektive kann der Jugofuturismus eine kreative Erinnerung daran sein, dass eine besondere Kraft in der Einheit liegt. Durch Nationalismen zersplitterte und durch Eurozentrismus entfremdete Menschen können wieder zusammenfinden. Die Autorin Ana Fazekaš schreibt in Maska dazu, dass wir die überwältigenden Gefühle des Zurückbleibens und der Hoffnungslosigkeit nicht bekämpfen, sondern annehmen sollten. In der Akzeptanz dieser Gefühle kann eine gewisse Befreiung liegen, da wir unser Verlierertum endlich bejahen und es nicht mehr schamhaft zu verstecken versuchen. 

Zwischen Utopie und Dystopie 

Nichtsdestotrotz ist Jugofuturismus eine Frage und keine Antwort. Wir versuchen einen kreativen Funken zu entfachen, und Anlässe zu bieten, um sich wieder interregional zu vernetzen. Für die Nachkriegsgenerationen gab es bisher kaum derartige Möglichkeiten. 

Da Maska auch ein Institut für künstlerische Produktion im Bereich der performativen Künste ist, veröffentlichten wir 2022 eine offene Ausschreibung für eine jugofuturistische Performance. Schließlich wurde das Stück „How well did you perform today?“ der bosnischen Performance-Künstlerin Alma Gačanin beim YUFU Cycle Event im Jänner dieses Jahres uraufgeführt. Es zeigt eine feministische Dystopie, die in einem Fitnessstudio der Zukunft spielt. In dem Stück werden sexuelle, emotionale und ausbeuterische Dimensionen der Arbeit erforscht. Außerdem beauftragte Maska Performer*innen und Forscher*innen, sich mit der Idee einer alternativen Zukunft des Künstlers und Forschers Rok Kranjc auseinanderzusetzen: In „Future 14b“ führte ein Alien durch den „Krater“, eine verlassene Baustelle in Ljubljana, und zeigte Stationen unserer utopischen und dystopischen Zukunft. 

In Zusammenarbeit mit Radio Študent, dem ältesten unabhängigen Radio in Europa, entstand zudem eine Reihe von Sendungen und kurzen Experimentalfilmen. Sie handeln von wichtiger Infrastruktur wie Straßen und Eisenbahnen in postjugoslawischer Zeit, Roadtrips der „verlorenen Generation“ und von Kultmodestücken wie den Trainingsanzügen aus den Achtzigern, die heute recycelt werden und wieder im Trend liegen. Für letzteres Projekt arbeiteten wir mit dem Lehrstuhl für Textil- und Modedesign der Fakultät für Natur- und Ingenieurwissenschaften zusammen. Innerhalb eines Semesters verwandelten Studierende alte Trainingsanzüge in Designerstücke zum Thema Jugofuturismus.  

Für uns steht Jugofuturismus erst am Anfang. Mit unserer partizipatorischen Webseite und weiteren künstlerischen und interdisziplinären Initiativen möchten wir den Funken der Kreativität immer wieder neu entfachen und Wege für sinnvolle interregionale und internationale Verbindungen schaffen. 

 

Janez Janša (geboren Emil Hravtin) ist einer von drei slowenischen Künstlern, die sich 2007 nach dem rechtspopulistischen Politiker und ehemaligen Ministerpräsidenten Sloweniens umbenannten. 

Sebastian Schäffer at the wiiw Spring Seminar 2024: Danube Region in Transition Mode, Again

Photo: Vladimir Vano 

Sebastian Schäffer was invited to the panel discussion “The future of European integration in the Danube Region – 20 years after the first Eastern enlargement of the EU” that took place during the 2024 Spring Seminar of the Vienna Institute for International Economic Studies (wiiw). At the OeNB Kassensaal of the Oesterreichische Nationalbank the IDM-Director discussed with distinguished guest Michael Landesmann (Senior Research Associate, Economist, former Scientific Director, wiiw), Alida Vračić (Executive Director, Think Tank Populari, Sarajevo) as well as Clotilde Warin (Advisor at the Center of Analysis, Planning and Strategy, French Ministry for Europe and Foreign Affairs), moderated by Katalin Tünde Huber (Head of Unit for EU Enlargement, Federal Ministry for European and International Affairs, Vienna).  

Sebastian Schäffer und Melanie Jaindl für Ö1: EU Diskurse: Vor welchen Herausforderungen steht Europa? (1)

Im Ö1-Radiokolleg sprachen Melanie Jaindl und Sebastian Schäffer über das Konzept Europa, die Absteckung der Grenzen des politischen Kontinents sowie bevorstehende EU-Erweiterungsrunden, insbesondere am Westbalkan. Die Sendung wurde am Montag, 13. Mai 2024, ausgestrahlt und kann in der Mediathek nachgehört werden. 

KAS Conference: Central Europe Plus – Bridge technologies with regard to a sustainable energy supply

Copyright photos: KAS

From 8 – 11 May 2024, Rebecca Thorne attended the conference „Central Europe Plus – Bridge technologies with regard to a sustainable energy supply“ in Croatia, organized by the Konrad Adenauer Stiftung. Participants represented countries from Central Europe and beyond (Austria, Bulgaria, Croatia, Czech Republic, France, Hungary, Poland, Slovakia and Slovenia) and brought expertise on various aspects of energy security and supply to the table. Discussion and debate revolved around questions of resilience, nuclear energy, fossil fuels and cooperation. The programme also included a guided tour of Krško nuclear power plant in Slovenia.

Sebastian Schäffer and Malwina Talik for Fair Observer: Will the France–Germany–Poland “Weimar Triangle” Be Europe’s New Powerhouse?

In the collaborative article, IDM Director Sebastian Schäffer, IDM Research Associate Malwina Talik, and Romain Le Quiniou analyze the resurgence of the France–Germany–Poland „Weimar Triangle“ in European politics. The authors explain how historical context, recent geopolitical shifts such as the Russian war in Ukraine, and domestic politics in each country have influenced the trajectory of this trilateral forum. They argue that while past differences and periods of dormancy have characterized the Weimar Triangle, recent events have sparked a renewed interest and potential for impactful collaboration among the three countries. The authors offer insights into the motivations and expectations of each country involved, highlighting hopes for increased cooperation, security measures, and strategic positioning within the EU. As they explore the format’s challenges and prospects, they underscore the importance of institutionalizing relationships beyond high-level summits to unlock the full potential of this minilateral framework. 

You can read the whole article here.

»Für Nostalgiker*innen liegt das bessere Morgen hinter uns«

MITJA VELIKONJA erforscht Nostalgie und ihre verschiedenen kulturellen Manifestationen, vor allem im post-sozialistischen Raum. Im Gespräch mit MELANIE JAINDL erzählt er, wie uns Nostalgie etwas über die Zukunft verrät und welche regionalen Unterschiede er beobachtet.

Mit dem Wort „Nostalgie“ assoziieren wir für gewöhnlich die Vergangenheit. Sie beschreiben Nostalgie allerdings als einen Zustand zwischen nicht-mehr und noch-nicht. Was meinen Sie damit? 

Nostalgie erzählt uns immer etwas über die Gegenwart. Wir versuchen, unsere Unzufriedenheit mit der momentanen Situation durch Elemente einer geschönten Vergangenheit zu verbessern. Dabei kreieren wir eine Utopie. 

Inwiefern lässt sich Nostalgie als Utopie verstehen? 

Der Kern der Nostalgie ist der Wunsch nach einer besseren Welt. Esoteriker*innen suchen sie in einer anderen Dimension, Visionär*innen denken, sie könnte durch eine Revolution kommen. Für Nostalgiker*innen liegt das bessere Morgen hinter uns, es ist aber eine Vergangenheit, die so nie existierte. 

Heißt das, in zufriedenen Gesellschaften gibt es keine Nostalgie? 

Ha, zufrieden! Nostalgie ist ein Gefühl, es ist nichts Objektives. Auch Menschen, die vermeintlich alles haben, können nostalgisch sein – sie vermissen das Schlittenfahren als Kinder, oder ihre Lieblingssüßigkeit, die nicht mehr produziert wird. Der große politische Unterschied zwischen Ost- und Westeuropa ist, dass im Osten nach der Wende ein starker systemischer und ideologischer Bruch kam. Deswegen ist Nostalgie dort mehr vom Sozialismus geprägt. 

Sind post-sozialistische Gesellschaften also auch nostalgischer als jene ohne sozialistische Vergangenheit? 

Das kann man so nicht beantworten, weil wir Nostalgie ja nicht messen können. Aber wir finden Nostalgie überall: Make America Great Again! Meine Großmutter hatte nostalgische Gefühle für das Habsburgerreich. Außerdem befindet sich gewissermaßen ganz Europa im post-sozialistischen Kontext. 

Nach der Wende wurde die sozialistische Vergangenheit in den meisten Ländern verteufelt. Das wiederrum vernachlässigt die guten Erfahrungen, die manche im Sozialismus machten. Nicht alle wurden zum Opfer des Systems. Ist Nostalgie demnach immer politische Kritik, oder auch der einfache Versuch, Deutungshoheit über die eigene Vergangenheit zu gewinnen? 

Ich sehe hier einen gewissen Pendeleffekt. Anfang der 1990er dachte niemand, dass Nostalgie für den Sozialismus aufkommen würde. Mitunter ein Treiber der Unabhängigkeitsbestrebung Sloweniens war die Nostalgie für die prä-sozialistische Zeit, als eben das Land Teil des Habsburgerreichs war. Je mehr die Politik aber die neoliberale und nationale Transformation forcierte, desto mehr schwang die Stimmung zurück. Nicht jede*r profitierte von der Wende, in den Balkanländern mischten sich auch ethnonationalistische Gewalterfahrungen dazu. Dennoch ist Nostalgie nicht immer politisch, manche werden einfach sentimental, wenn sie an ihre Jugend oder ihren ersten Kuss denken. Außerdem gibt es auch große regionale Unterschiede. 

Welche? 

Um nur zwei Beispiele zu nennen: Jugo-Nostalgie ist sehr affirmativ. Früher sei alles besser gewesen, das verlorene Paradies Jugoslawien – natürlich stimmt das so nicht. Und viele Nostalgiker*innen verneinten auch klar, wenn ich fragte, ob sie die Zeit zurückdrehen wollten. Die Situation in Tschechien ist dagegen ganz anders. In dem Buch „Velvet Retro“ beschreibt Veronica Pehe die tschechische Nostalgie des Widerstands. Tschech*innen empfinden weniger nostalgische Gefühle für das vergangene System als für den Mut, gegen dieses zu protestieren. Sie vermissen den Aufstand und, dass Menschen Visionen hatten. 

Jugo-Nostalgie ist untrennbar von Josip Broz Tito. Bis heute finden wir unzählige popkulturelle Referenzen zum langjährigen Präsidenten Jugoslawiens, kaum welche sind negativ konnotiert. Wie erklären Sie diese „Titostalgie“, während beispielsweise keine vergleichbare „Stalinostalgie“ existiert? 

Das ist absolut richtig. In meiner Graffiti-Forschung bin ich fast nie auf positive Stalin-Graffitis gestoßen, während Tito vor allem im post-jugoslawischen Raum omnipräsent ist. Tito hatte einen extravaganten Lebensstil, er feierte mit Hollywoodstars, gleichzeitig war er auch ein junger Rebellionsführer und traute sich, mit den Partisan*innen gegen Hitler zu kämpfen und sich später gegen Stalin zu stellen. Etwas überspitzt gesagt, ist er somit als historische Person näher an Elvis und Che Guevara als an Stalin. Heute finden wir Tito-Referenzen in verschiedenen Musikgenres, in Internet-Memes, Graffitis, sogar in der Werbung. Die Grausamkeiten, die in seinem Namen geschahen, werden dabei komplett ausgeblendet und Nostalgiker*innen fokussieren sich allein auf seine guten Eigenschaften als starker Anführer. 

Sie haben Jugo-Nostalgie in allen Nachfolgestaaten erforscht. Erkannten Sie hier ebenfalls regionale Unterschiede? Sind Kosovar*innen auch jugo-nostalgisch? 

Nein, überhaupt nicht. Kosovar*innen verbinden Jugoslawien mit der serbischen Unterdrückung, obwohl die Situation natürlich nuancierter betrachtet werden müsste. Aber im Kosovo fand ich über all die Jahre kein einziges Tito-Graffiti. Besonders stark ist Jugo-Nostalgie in Bosnien und Herzegowina. Zum einen liegt das am grausamen Krieg in den 1990ern. Obwohl jetzt Frieden herrscht, gibt es kaum positive Fortschritte – es ist sozusagen Krieg mit anderen Mitteln. Das Land profitierte wirtschaftlich kaum von der Transformation, es gibt weiterhin große Spannungen zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen und viele Bosnier*innen haben daher die Hoffnung verloren. Tito manifestiert sich dort oft in der Öffentlichkeit, bei Streiks und Demonstrationen wird die jugoslawische Vergangenheit romantisiert und gleichzeitig politisiert. In Slowenien hingegen ist Nostalgie kommerzialisiert und kommodifiziert.  

Kapitalismus im Sozialismuskostüm? 

Die Vergangenheit verkauft sich immer gut, nicht nur die sozialistische. Gute alte Filme, gute alte Werte – Märkte fanden eine neue Profitnische. Oft gibt es in slowenischen Supermärkten Nostalgiewochen, in denen Domaćica Kekse und das beliebte Getränk Cockta im Design der 1950er-Jahre angeboten werden. In Slowenien beobachte ich allerdings schon, wie das proletarische Element Jugoslawiens komplett ausgeklammert wird. Das Erbe der Partisan*innen bezieht sich hier auf den Antifaschismus, das ist auch die einzige Gemeinsamkeit von Jugo-Nostalgie in allen Nachfolgestaaten. Ein weiteres Merkmal der Nostalgie in Slowenien ist ein starker kultureller Einfluss: Es gibt einen regelrechten Retro-Trend. 

Was ist der Unterschied zwischen Nostalgie und Retro? 

Retro ist entspannter und ironischer im Umgang mit der Vergangenheit. Für echte Nostalgiker*innen kann das beleidigend sein. Retro ist mitunter auch sehr trivial: Retro-Mode, Hipster-Kultur. Nostalgie hat einen emotionalen Anteil. 

Welchen Einfluss hat Nostalgie auf den Kultursektor? Behindert die Besinnung auf die Vergangenheit nicht Innovation? 

Was ist schon neu in der Kulturbranche? Kultur ist immer ein Remix aus Altem, Neuem und Benachbartem. Ein Beispiel ist Yugo-Wave: die Verbindung von Vaporwave mit jugoslawischen Elementen. Diese Musik wird allerdings nicht von alten Genoss*innen produziert, sondern von den neuen Generationen, die Jugoslawien nicht einmal miterlebten. Es gibt auch sehr lustige popkulturelle Manifestationen. Jugo-Yoga zum Beispiel entstand in der britischen Diaspora, ursprünglich als Kunstprojekt. Beim Yoga werden hier Posen von bekannten Partisan*innen-Denkmälern nachgeahmt, mittlerweile erfreut sich Jugo-Yoga großer Beliebtheit, auch in den Nachfolgestaaten. Ebenso Bumba – Zumba mit Turbofolk-Musik.  

Wie können Menschen, die Jugoslawien nie miterlebten, jugo-nostalgisch sein? 

Ich bezeichne dieses Phänomen als Neostalgie und zu ihm zählen junge Menschen in den Nachfolgestaaten aber auch in der Diaspora. Sie sagen eher Nein zur Gegenwart als Ja zur Vergangenheit, damit kommen wir auch wieder auf die Unzufriedenheit mit der momentanen Situation zurück. Grundsätzlich hat Jugo-Nostalgie fünf Kernelemente, die viele junge Menschen heute vermissen. Zum einen den Antifaschismus und den Widerstand der Partisan*innen, sowie die schnelle Modernisierung und soziale Mobilität – Bauernfamilien brachten plötzlich Lehrer*innen hervor. Das dritte, extrem wichtige Element ist Emanzipation. Heute erleben wir hingegen ein Comeback patriarchaler Ideologien. Viertens ist die politische Alternative zu nennen – Titos „dritter Weg“ und die Arbeiter*innenselbstverwaltung. Schlussendlich sind Menschen nostalgisch wegen der damaligen Multikulturalität, von der nach den blutigen ethnonationalistischen Kriegen kaum etwas übrigblieb. 

 

Dr. Mitja Velikonja ist Professor für Kulturwissenschaften und Leiter des Zentrums für Kultur- und Religionswissenschaften an der Universität Ljubljana. Er erforscht zeitgenössische politische Ideologien am Balkan, Subkulturen, kollektives Gedächtnis und post-sozialistische Nostalgie.  

Melanie Jaindl ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am IDM. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen den Westbalkan, Migration und Asyl, intersektionaler Feminismus und soziale (Un-)Gerechtigkeit. 

Mittel- und Osteuropa vor den EU-Wahlen

 

Copyright fotos: KAS Vienna

Anfang Juni werden die EU-Bürger*innen das neue EU-Parlament wählen. Diesbezüglich hat unsere Kollegin Malwina Talik an einer von der Konrad-Adenauer-Stiftung Vienna organisierten Diskussion teilgenommen, wo sie ihre Einschätzungen zu den neuesten Entwicklungen in Polen in Hinblick auf die Wahl geteilt hat. Unter den Referenten waren Dr. Tobias Spöri (Universität Wien/dpart), Dr. Vedran Džihić (oiip), Tomislav Delinić (Leiter KAS-Büro Prag und Bratislava), moderiert wurde die Diskussion von Michael Stellwag (KAS Vienna).

IDM Short Insights 35: Das OeAD-Kooperationsbüro in Lwiw (Lemberg)

 

Die neueste Folge der IDM Short Insights kommt aus der Ukraine, wo Andreas Wenninger das OeAD-Kooperationsbüro in Lwiw (Lemberg) leitet und sowohl die Herausforderungen als auch die Notwendigkeit der weiteren Arbeit auch während des russischen Überfalls erläutert. Wenninger ist zudem Leiter des Ukraine Office Austria, Sektion V – Internationale Kulturangelegenheiten, im Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten in Wien.


Sebastian Schäffer on Asharq News: Humanism cannot be blackmailed

Sebastian Schäffer was invited by Asharq News to comment on recent statements by the Hungarian government reiterating that their country does not want to participate in NATO operations to transfer weapons and train Ukrainian soldiers. The IDM Director pointed out that Viktor Orban is currently facing one of the biggest anti-government protests happening in the history of the country and that the bluntness of these statements and the harsher reactions are therefore directly related to the internal situation in Hungary. Schäffer also stressed that the Hungarian government has been very reluctant when it comes to the support of Ukraine before and has used the debate about the sanctioning packages within the European Union for its own benefit: 

“[…] they want to a certain extent to benefit from the suffering that is happening in Ukraine. And this is something that I really condemn, especially if we talk about a collective security organization like NATO and a collective value community like the European Union. I would like to know what Viktor Orban would think if he was the victim of an aggression and we were debating whether we should help him or not. He’s not in this position, of course […] he is in NATO, and he can ask for the support. Ukraine can’t do that. Ukraine needs to rely on solidarity. And I can tell you, two weeks ago, I went to Ukraine, and I saw how the people are suffering there, and I saw the constant air raid alarms. I’ve witnessed air raid alarms again while being in the country and we are denying them the basic capabilities […] to defend themselves. And the Hungarian government is using this as leverage for their own benefit,” Schäffer said on the Arabic-language television channel.  

He admitted that Hungary is a sovereign country and that their decisions have to be respected. “But I am criticising that Hungary is part of a collective security treaty organisation, NATO; Hungary is part of a value community, the European Union: but they are themselves violating the value community in the European Union and they are denying the basic security of not a NATO member, but a NATO partner country, Ukraine. And here again I would ask, is it really a sovereign decision to deny the basic rights to defend oneself if we at the same time also try to personally profit from such a situation? And this is a point where I would doubt that we should have a single country blackmailing all others at the expense of the Ukrainian people”, the IDM Director concluded. 

 

Watch the video (in Arabic) here. 

Die Zukunft, die bereits geschah

Um den Unsicherheiten der Zukunft entgegenzutreten, bieten konservative Kräfte Lösungskonzepte aus der Vergangenheit an. In seinem Kommentar erklärt OV CRISTIAN NOROCEL warum diese scheitern werden.

Die Gesellschaften Mitteleuropas, sowohl diesseits als auch jenseits des ehemaligen Eisernen Vorhangs, stehen derzeit einem Nebeneinander sozialer und demografischer, institutioneller und ökologischer Krisen gegenüber. Oft werden diese mit apokalyptischen Begriffen beschrieben. Auf die multiplen Krisen und Ungewissheiten reagieren viele Länder Mitteleuropas – wenig überraschend – mit Isolierung. Sie sehnen sich nach dem schützenden Kokon einer Zeit mit weniger scharfen und beängstigenden Konturen: einer Zeit, die ihnen mit Sicherheit keinen Schaden zufügen kann, aus dem einfachen Grund, dass sie bereits in der Vergangenheit liegt.   

So wird der Konservatismus lautstark als das offensichtliche und auch einzige Mittel dargestellt, um vor einer vermeintlichen Apokalypse verschont zu bleiben. Mit Konservatismus meine ich hier die Sehnsucht nach der Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Status quo mit allenfalls schrittweisen, sorgfältig überlegten Veränderungen. Konservatismus hüllt die Zukunft in ein nostalgisches Gewand, es ist eine Zukunft in der Vergangenheitsform, mit vorhersehbaren Modifikationen, leicht vergessenen Niederlagen und sicheren Siegen. Solche Appelle durchdringen und mobilisieren derzeit alle Ebenen mitteleuropäischer Gesellschaften. Politiker*innen aller Fraktionen erklären sich stolz zu vermeintlichen Retter*innen ihrer Nationen, kirchliche Amtsträger*innen nutzen den Moment, um ihre gesellschaftliche Relevanz zu beweisen, und Intellektuelle sowie Meinungsmacher*innen spekulieren angesichts gesellschaftlicher Veränderungen über Unsicherheiten, die ihren eigenen Zwecken nützen. 

Mutter, Vater, Kinder – die alte neue Vorzeigefamilie 

Ein genauer Blick auf eine der gegenwärtigen Krisen, nämlich die soziale und insbesondere demografische Herausforderung, verrät, wie diese Form der konservativen Nostalgie wirkt und die Sorgen der Bevölkerung zu lindern versucht. Die Aussicht auf einen dramatischen Bevölkerungsrückgang ist in den Ländern Mittel- und Osteuropas mit starken Ängsten verbunden. Die zunehmend alternde Gesellschaft sieht zu, wie der Nachwuchs in großen Zahlen ins Ausland abwandert. Es sind die Folgen untauglicher und gescheiterter Sozialpolitik. In Lettland ging die Bevölkerung seit 1990 um etwa 30% zurück und laut einer Eurostat-Prognose wird der Anteil der über 55-Jährigen an der Gesamtbevölkerung im Jahr 2050 bei 45% liegen.  

Als Allheilmittel dieser Entwicklungen auf Mikro- und Makroebene präsentiert konservative Nostalgie die Wiederherstellung der traditionellen Familie. Doch wie kann die geweihte heterosexuelle Verbindung zwischen Mann und Frau, geleitet vom Imperativ der Zeugung zahlreicher Nachkommen, dies bewerkstelligen? Auf individueller Ebene mildert die traditionelle Familie als Lösung das Gefühl der Unangemessenheit und des Verlustes von Privilegien mancher Männer. Gleichzeitig unterbindet sie aber auch die emanzipatorischen Forderungen von Frauen und Mitgliedern der LGBTQIA+ Community. Das nostalgische Versprechen erwartet von Frauen, in die häuslichen Grenzen des Familienheims zurückzukehren und dort das Gebären und Großziehen von Kindern als ihre natürliche Berufung anzunehmen. Der Trend nimmt verschiedene Formen an. In Rumänien beispielsweise wird in Vorbereitung auf die diesjährigen Wahlen (EU-, Präsidentschafts-, Parlaments- und Kommunalwahlen) gegen die gleichgeschlechtliche Ehe mobilisiert, obwohl das Referendum zur einschlägigen Verfassungsänderung 2018 scheiterte. In Bulgarien wird die Diskussion über die Binarität der Geschlechter seit 2018 programmatisch genutzt, um die Ratifizierung des Istanbuler Abkommens gegen Gewalt an Frauen zu verhindern. 

Auf der Makroebene wird die traditionelle Familie als Lösung für den drohenden demografischen Winter in der Region angeboten. Hier lautet das nostalgische Versprechen, die richtige Art von Kindern zu gebären, das heißt genetisch makellos und entschieden heterosexuell, um die nächste Generation der ethnischen Mehrheit in dem betreffenden Land zu sichern. In Ungarn kultiviert diese Haltung den Irredentismus und eine Sehnsucht nach der Zeit vor dem Vertrag von Trianon 1920, als die meisten Ungar*innen noch auf dem gleichen Staatsgebiet lebten, und nicht wie fortan auch in Rumänien, der Tschechoslowakei und dem Königreich Jugoslawien. Diese Haltungen nützen der politischen Agenda in Budapest und rechtfertigen deren Fremdenfeindlichkeit. Die Auswirkungen der ungarischen Familienpolitik sind unterschiedlich: In Ungarn selbst scheinen die Bemühungen der Regierung, kinderreiche Familien zu unterstützen, zu fruchten, denn der demografische Rückgang scheint sich etwas zu verlangsamen. Die Gemeinschaften ethnischer Ungar*innen in den Nachbarländern dagegen wurden ernsthaft geschwächt und sogar dezimiert, da Menschen im arbeitsfähigen Alter und insbesondere die Jugend nach Ungarn abwanderten. Nach der Reihe übernehmen verschiedene rechtsextreme Gruppierungen am gesamten Kontinent diese konservativen Ideale und proklamieren Frauen aus dem „Osten“ als perfekte Ehe- und Hausfrauen und unterwürfige Gefäße ihres erträumten reinen Nachwuchses.   

Bevölkerung im unaufhaltsamen Wandel 

Nichtsdestotrotz wird kein noch so nostalgisches, konservatives Verschleiern der Zukunft als gehübschte Vergangenheit Mitteleuropa vor der nüchternen Realität des demografischen Rückgangs und der Überalterung retten. Um es klar zu sagen, diese nostalgischen Appelle sind unaufrichtig. Sie vertuschen die grässliche Realität von Gewalt an Frauen, die Verweigerung reproduktiver Gerechtigkeit und auch die brutale Ablehnung queerer Existenzen in der Region, wie beispielsweise die Errichtung sogenannter „LGBT-freien Zonen in einigen Regionen Polens zeigte. Die hasserfüllten Beschlüsse verbesserten keineswegs das Leben der Pol*innen und sorgten darüber hinaus für internationale Ächtung. Schlussendlich wurden sie mehrheitlich wieder aufgehoben. 

Konservative Plädoyers übersehen zudem das komplizierte ethnische Mosaik der Region, das es auch schon in der Vergangenheit, in die sehnsüchtig zurückgeblickt wird, immer gab. Nehmen wir jüdische und Rom*nja-Gemeinden als Beispiel, deren Existenz somit sowohl in der Geschichte als auch in der Zukunft Mitteleuropas radiert wird. Sie vergessen auch die düstere Realität von in Armut lebenden Alleinerziehenden, oder Mehrgenerationenfamilien, in denen die Großeltern für die Erziehung der Kinder zuständig sind, die die Eltern in der Hoffnung auf bessere Arbeitsbedingungen im Ausland zurücklassen mussten. 

Angesichts all dieser Tendenzen müssen wir uns vielleicht eingestehen, dass die Zukunft tatsächlich apokalyptisch erscheint. Um diese Zukunft zum Besseren zu wenden und den Bedürfnissen aller gerecht zu werden, können wir uns nicht hinter engen und vergangenen Familienbildern verstecken. Ganz im Gegenteil – wir müssen uns mit den Ungewissheiten der Zukunft auseinanderzusetzen und Veränderungen, die der Gemeinschaft dienen, annehmen. 

 

Ov Cristian Norocel ist Dozent an der Universität Lund in Schweden. Er erforscht und vergleicht rechtsextreme Politik und Anti-Gender-Bewegungen in Nord- und Mitteleuropa, insbesondere in Schweden, Finnland, Ungarn und Rumänien.