»Für Nostalgiker*innen liegt das bessere Morgen hinter uns«

MITJA VELIKONJA erforscht Nostalgie und ihre verschiedenen kulturellen Manifestationen, vor allem im post-sozialistischen Raum. Im Gespräch mit MELANIE JAINDL erzählt er, wie uns Nostalgie etwas über die Zukunft verrät und welche regionalen Unterschiede er beobachtet.

Mit dem Wort „Nostalgie“ assoziieren wir für gewöhnlich die Vergangenheit. Sie beschreiben Nostalgie allerdings als einen Zustand zwischen nicht-mehr und noch-nicht. Was meinen Sie damit? 

Nostalgie erzählt uns immer etwas über die Gegenwart. Wir versuchen, unsere Unzufriedenheit mit der momentanen Situation durch Elemente einer geschönten Vergangenheit zu verbessern. Dabei kreieren wir eine Utopie. 

Inwiefern lässt sich Nostalgie als Utopie verstehen? 

Der Kern der Nostalgie ist der Wunsch nach einer besseren Welt. Esoteriker*innen suchen sie in einer anderen Dimension, Visionär*innen denken, sie könnte durch eine Revolution kommen. Für Nostalgiker*innen liegt das bessere Morgen hinter uns, es ist aber eine Vergangenheit, die so nie existierte. 

Heißt das, in zufriedenen Gesellschaften gibt es keine Nostalgie? 

Ha, zufrieden! Nostalgie ist ein Gefühl, es ist nichts Objektives. Auch Menschen, die vermeintlich alles haben, können nostalgisch sein – sie vermissen das Schlittenfahren als Kinder, oder ihre Lieblingssüßigkeit, die nicht mehr produziert wird. Der große politische Unterschied zwischen Ost- und Westeuropa ist, dass im Osten nach der Wende ein starker systemischer und ideologischer Bruch kam. Deswegen ist Nostalgie dort mehr vom Sozialismus geprägt. 

Sind post-sozialistische Gesellschaften also auch nostalgischer als jene ohne sozialistische Vergangenheit? 

Das kann man so nicht beantworten, weil wir Nostalgie ja nicht messen können. Aber wir finden Nostalgie überall: Make America Great Again! Meine Großmutter hatte nostalgische Gefühle für das Habsburgerreich. Außerdem befindet sich gewissermaßen ganz Europa im post-sozialistischen Kontext. 

Nach der Wende wurde die sozialistische Vergangenheit in den meisten Ländern verteufelt. Das wiederrum vernachlässigt die guten Erfahrungen, die manche im Sozialismus machten. Nicht alle wurden zum Opfer des Systems. Ist Nostalgie demnach immer politische Kritik, oder auch der einfache Versuch, Deutungshoheit über die eigene Vergangenheit zu gewinnen? 

Ich sehe hier einen gewissen Pendeleffekt. Anfang der 1990er dachte niemand, dass Nostalgie für den Sozialismus aufkommen würde. Mitunter ein Treiber der Unabhängigkeitsbestrebung Sloweniens war die Nostalgie für die prä-sozialistische Zeit, als eben das Land Teil des Habsburgerreichs war. Je mehr die Politik aber die neoliberale und nationale Transformation forcierte, desto mehr schwang die Stimmung zurück. Nicht jede*r profitierte von der Wende, in den Balkanländern mischten sich auch ethnonationalistische Gewalterfahrungen dazu. Dennoch ist Nostalgie nicht immer politisch, manche werden einfach sentimental, wenn sie an ihre Jugend oder ihren ersten Kuss denken. Außerdem gibt es auch große regionale Unterschiede. 

Welche? 

Um nur zwei Beispiele zu nennen: Jugo-Nostalgie ist sehr affirmativ. Früher sei alles besser gewesen, das verlorene Paradies Jugoslawien – natürlich stimmt das so nicht. Und viele Nostalgiker*innen verneinten auch klar, wenn ich fragte, ob sie die Zeit zurückdrehen wollten. Die Situation in Tschechien ist dagegen ganz anders. In dem Buch „Velvet Retro“ beschreibt Veronica Pehe die tschechische Nostalgie des Widerstands. Tschech*innen empfinden weniger nostalgische Gefühle für das vergangene System als für den Mut, gegen dieses zu protestieren. Sie vermissen den Aufstand und, dass Menschen Visionen hatten. 

Jugo-Nostalgie ist untrennbar von Josip Broz Tito. Bis heute finden wir unzählige popkulturelle Referenzen zum langjährigen Präsidenten Jugoslawiens, kaum welche sind negativ konnotiert. Wie erklären Sie diese „Titostalgie“, während beispielsweise keine vergleichbare „Stalinostalgie“ existiert? 

Das ist absolut richtig. In meiner Graffiti-Forschung bin ich fast nie auf positive Stalin-Graffitis gestoßen, während Tito vor allem im post-jugoslawischen Raum omnipräsent ist. Tito hatte einen extravaganten Lebensstil, er feierte mit Hollywoodstars, gleichzeitig war er auch ein junger Rebellionsführer und traute sich, mit den Partisan*innen gegen Hitler zu kämpfen und sich später gegen Stalin zu stellen. Etwas überspitzt gesagt, ist er somit als historische Person näher an Elvis und Che Guevara als an Stalin. Heute finden wir Tito-Referenzen in verschiedenen Musikgenres, in Internet-Memes, Graffitis, sogar in der Werbung. Die Grausamkeiten, die in seinem Namen geschahen, werden dabei komplett ausgeblendet und Nostalgiker*innen fokussieren sich allein auf seine guten Eigenschaften als starker Anführer. 

Sie haben Jugo-Nostalgie in allen Nachfolgestaaten erforscht. Erkannten Sie hier ebenfalls regionale Unterschiede? Sind Kosovar*innen auch jugo-nostalgisch? 

Nein, überhaupt nicht. Kosovar*innen verbinden Jugoslawien mit der serbischen Unterdrückung, obwohl die Situation natürlich nuancierter betrachtet werden müsste. Aber im Kosovo fand ich über all die Jahre kein einziges Tito-Graffiti. Besonders stark ist Jugo-Nostalgie in Bosnien und Herzegowina. Zum einen liegt das am grausamen Krieg in den 1990ern. Obwohl jetzt Frieden herrscht, gibt es kaum positive Fortschritte – es ist sozusagen Krieg mit anderen Mitteln. Das Land profitierte wirtschaftlich kaum von der Transformation, es gibt weiterhin große Spannungen zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen und viele Bosnier*innen haben daher die Hoffnung verloren. Tito manifestiert sich dort oft in der Öffentlichkeit, bei Streiks und Demonstrationen wird die jugoslawische Vergangenheit romantisiert und gleichzeitig politisiert. In Slowenien hingegen ist Nostalgie kommerzialisiert und kommodifiziert.  

Kapitalismus im Sozialismuskostüm? 

Die Vergangenheit verkauft sich immer gut, nicht nur die sozialistische. Gute alte Filme, gute alte Werte – Märkte fanden eine neue Profitnische. Oft gibt es in slowenischen Supermärkten Nostalgiewochen, in denen Domaćica Kekse und das beliebte Getränk Cockta im Design der 1950er-Jahre angeboten werden. In Slowenien beobachte ich allerdings schon, wie das proletarische Element Jugoslawiens komplett ausgeklammert wird. Das Erbe der Partisan*innen bezieht sich hier auf den Antifaschismus, das ist auch die einzige Gemeinsamkeit von Jugo-Nostalgie in allen Nachfolgestaaten. Ein weiteres Merkmal der Nostalgie in Slowenien ist ein starker kultureller Einfluss: Es gibt einen regelrechten Retro-Trend. 

Was ist der Unterschied zwischen Nostalgie und Retro? 

Retro ist entspannter und ironischer im Umgang mit der Vergangenheit. Für echte Nostalgiker*innen kann das beleidigend sein. Retro ist mitunter auch sehr trivial: Retro-Mode, Hipster-Kultur. Nostalgie hat einen emotionalen Anteil. 

Welchen Einfluss hat Nostalgie auf den Kultursektor? Behindert die Besinnung auf die Vergangenheit nicht Innovation? 

Was ist schon neu in der Kulturbranche? Kultur ist immer ein Remix aus Altem, Neuem und Benachbartem. Ein Beispiel ist Yugo-Wave: die Verbindung von Vaporwave mit jugoslawischen Elementen. Diese Musik wird allerdings nicht von alten Genoss*innen produziert, sondern von den neuen Generationen, die Jugoslawien nicht einmal miterlebten. Es gibt auch sehr lustige popkulturelle Manifestationen. Jugo-Yoga zum Beispiel entstand in der britischen Diaspora, ursprünglich als Kunstprojekt. Beim Yoga werden hier Posen von bekannten Partisan*innen-Denkmälern nachgeahmt, mittlerweile erfreut sich Jugo-Yoga großer Beliebtheit, auch in den Nachfolgestaaten. Ebenso Bumba – Zumba mit Turbofolk-Musik.  

Wie können Menschen, die Jugoslawien nie miterlebten, jugo-nostalgisch sein? 

Ich bezeichne dieses Phänomen als Neostalgie und zu ihm zählen junge Menschen in den Nachfolgestaaten aber auch in der Diaspora. Sie sagen eher Nein zur Gegenwart als Ja zur Vergangenheit, damit kommen wir auch wieder auf die Unzufriedenheit mit der momentanen Situation zurück. Grundsätzlich hat Jugo-Nostalgie fünf Kernelemente, die viele junge Menschen heute vermissen. Zum einen den Antifaschismus und den Widerstand der Partisan*innen, sowie die schnelle Modernisierung und soziale Mobilität – Bauernfamilien brachten plötzlich Lehrer*innen hervor. Das dritte, extrem wichtige Element ist Emanzipation. Heute erleben wir hingegen ein Comeback patriarchaler Ideologien. Viertens ist die politische Alternative zu nennen – Titos „dritter Weg“ und die Arbeiter*innenselbstverwaltung. Schlussendlich sind Menschen nostalgisch wegen der damaligen Multikulturalität, von der nach den blutigen ethnonationalistischen Kriegen kaum etwas übrigblieb. 

 

Dr. Mitja Velikonja ist Professor für Kulturwissenschaften und Leiter des Zentrums für Kultur- und Religionswissenschaften an der Universität Ljubljana. Er erforscht zeitgenössische politische Ideologien am Balkan, Subkulturen, kollektives Gedächtnis und post-sozialistische Nostalgie.  

Melanie Jaindl ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am IDM. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen den Westbalkan, Migration und Asyl, intersektionaler Feminismus und soziale (Un-)Gerechtigkeit.